Hat der Bundesrat alles richtig gemacht im Kampf gegen das Coronavirus? Das lässt Politologe Claude Longchamp offen. Daumen rauf gibt es aber trotzdem.
Claude Longchamp Coronavirus Bundesrat
Politologe Claude Longchamp beurteilt die Strategie des Bundesrats gegen das Coronavirus als alternativlos. - Keystone
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Das Wichtigste in Kürze

  • Der Bundesrat verschiebt die Volksabstimmung vom 17. Mai.
  • Politologe Claude Longchamp findet diesen Entscheid nichts als konsequent.
  • Auch sonst habe der Bundesrat gut entschieden und gut kommuniziert.
  • Es gehe immerhin um «das grösste soziologische Experiment des 21. Jahrhunderts».

Am Montag hat der Bundesrat die «ausserordentliche Lage» erklärt und die Schweiz zum Stillstand gebracht. Heute nun folgte unter anderem ein sehr politischer Entscheid: Der Abstimmungstermin vom 17. Mai wird abgeblasen.

Vorläufig kann das Stimmvolk weder Ja noch Nein zur Begrenzungsinitiative der SVP sagen. Der Bundesrat schafft Tatsachen – Politologe Claude Longchamp beurteilt diese aus seiner Warte als langjähriger Beobachter.

Nau.ch: Die ersten Reaktionen von Parteien und Verbänden zur Verschiebung des Abstimmungstermins vom 17. Mai sind positiv. Einverstanden?

Claude Longchamp: Ich bin froh, dass der Abstimmungstermin verschoben wurde. Das schafft innenpolitische Klarheit und eine Entscheidung wohl unter normalen Bedingungen. Der Abstimmungssonntag selbst wäre organisatorisch zwar machbar gewesen, gerade auch mit der brieflichen Stimmabgabe. Aber der Meinungsbildungsprozess wäre schwer eingeschränkt gewesen.

Der Einfluss eines Abstimmungskampfs auf die Meinungsbildung ist bei Abstimmungen wichtiger als bei Wahlen. Wir haben immer verschiedene Themen und meist mehrere gleichzeitig, das fordert alle heraus.

Nau.ch: Also ganz im Sinne des Bundesrats, der schreibt: Es braucht einen «umfassenden Prozess der Meinungsbildung», mit allem drum und dran wie Parolenfassungen, Podiumsgesprächen und so weiter?

Claude Longchamp: Die Begrenzungsinitiative wurde ja bereits diskutiert. Aber beim Jagdgesetz weiss man vielleicht grad noch, dass es irgendwie um den Wolf geht.

Aber das dritte Thema. Da sagen die meisten: «Was ist das schon wieder»? Dabei wäre die «Steuerliche Berücksichtigung der Kinderdrittbetreuungskosten» im Normalfall ein relevantes Thema. Die Bevölkerung hat im Moment zurecht ganz andere Sorgen, und die Medienaufmerksamkeit ist eingeschränkt.

Coronavirus Bundesrat
Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga (zweite von rechts) informiert die Medien über die jüngsten Massnahmen zur Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie. Neben ihr sitzen Verteidigungsministerin Viola Amherd, Justizministerin Karin Keller-Sutter sowie Gesundheitsminister Alain Berset. - dpa

Nau.ch: Eine Sorge weniger für den Bundesrat im Krisenmodus, aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben.

Claude Longchamp: Die Probleme sind damit nicht weg. Beim Rahmenabkommen drängt die EU zur Ratifizierung, die hätte ja bis Ende Mai erfolgen sollen. Da dürfte der Bundesrat bei der EU sondiert haben.

Sonst fällt das InstA ganz sicher zwischen Stuhl und Bank. So oder so bleibt die Situation in der Europafrage jetzt länger blockiert.

Nau.ch: Der Bundesrat muss seine Entscheide nicht nur gegenüber der EU, sondern auch gegenüber der Bevölkerung gut vermitteln. Was haben Sie für einen Eindruck von der Krisenkommunikation der Landesregierung?

Claude Longchamp: Der Bundesrat macht das mit Umsicht, Kritik gibt es ja vor allem von Experten. Epidemiologen, die sagen: Man muss die Schulen schliessen, bevor man den ersten Fall hat. Die Naturwissenschaftler sind eher für die härtere Gangart.

Die Ökonomen dagegen rechnen die Kosten aus, die uns je nach Szenario blühen. Die hätten lieber weniger gehabt.

Pausenplatz Schule Coronavirus
Ein leerer Pausenplatz einer Schule in Zürich, aufgenommen am Samstag, 14. März 2020. - Keystone

Der Bundesrat hatte die Wahl zwischen drei Strategien: Ursachen finden und Virus ausrotten – das hat eigentlich nirgends funktioniert. Dann die Variante Boris Johnson: Die Alten und Kranken einsperren, während sich die Jungen infizieren lassen sollen, um immun zu werden. Johnson musste sein Experiment abbrechen, es drohten 250'000 Tote.

Schliesslich der Lockdown, die allgemeine Einschränkung des öffentlichen Lebens, um den Verlauf der Erkrankungswelle zu dämpfen. Das verfolgt der Bundesrat heute.

Nau.ch: In den Nachbarländern hat man diese Strategie auch gewählt, aber mit anderen Prioritäten. Das führte zu Kritik am vom Bundesrat eingeschlagenen Weg.

Claude Longchamp: Der Weg dazu war in Schritten. Das hat wohl mit unserer politischen Kultur zu tun, dass alles fliessend ist. Der Bundesrat hat geschaut, welche Massnahmen es braucht, hat aber nicht alles gleichzeitig ausgelöst. Wir sollten Stück für Stück an den Notstand gewohnt werden, um eine Schockwelle zu vermeiden.

Grenze Tessin Coronavirus
In der Schweiz sind die Landesgrenzen weitestgehend geschlossen – wie lange noch? - sda - KEYSTONE/SALVATORE DI NOLFI

Nun kann man das kritisieren, dass vieles zu spät erfolgt ist. Das hat mit der öffentlichen Meinung zu tun, die bei uns bisweilen anders funktioniert. Sie bevorzugt «ein Problem – eine Massnahme». Der Bundesrat denkt dagegen systematisch: Jede Massnahme hat Folgen, die stets mitgedacht werden müssen.

Nau.ch: Dann hat der Bundesrat alles richtig gemacht?

Claude Longchamp: Wir sollten nicht vergessen: Wir erleben gerade das grösste soziologische Experiment des 21. Jahrhunderts. So gesehen war die Kommunikation des Bundesrats gut, da sehe ich keine Alternativen.

Im Detail wird man immer Punkte finden, die man so oder anders besser hätte machen können. Aber die Massnahmen sind nachvollziehbar.

CORONAVIRUS, Bundeshaus
Verhaltensregeln des Bundesamtes für Gesundheit BAG im Hinblick auf die Krise des Coronavirus werden in der Eingangshalle des Parlamentgebäudes angezeigt. Die letzte Woche der Frühlingssession der Eidgenössischen Räte wurde wegen des Coronavirus abgesagt. - Keystone

Wir sind ein Land mit sehr hohem Vertrauen in die Regierung. Ein grosses Misstrauen erwarte ich eigentlich nicht, grobe Fehler vorbehalten.

Ich sehe das Problem eher anders. Wir haben in der Schweiz einen verbreiteten Privatismus, der sagt: «Okay, ich befolge das Gesetz und zahle meine Steuern. Aber dann will ich Ruhe vom Staat und meine Freiheit geniessen können.» Bei harten Einschnitten hätte es sicher Widerstand gegeben.

Nau.ch: Auch die schrittweise Einführung von harten Einschnitten wird über die Wochen und Monate spuren hinterlassen. Was hat das für Konsequenzen für die Wirtschaft?

Claude Longchamp: Man kann sicher nicht erwarten, dass nach Überwindung der Ansteckungswelle am anderen Tag gleich wieder eitel Sonnenschein herrscht. Die wirtschaftlichen Folgen werden wohl noch länger einschneidend sein. Die internationale Ökonomie ist stark vernetzt, komplex und anfällig. Jede Änderungen hat Konsequenzen, gewollte und ungewollte.

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Der Schweizer Aktienindex SMI mit Stand 17. März 2020, 17:30 Uhr. - Keystone / cash.ch

Das trifft auch die Schweiz. Economiesuisse spricht bereits von einer technischen Rezession. Am anfälligsten ist der Flugverkehr. Schlimm wäre es, wenn angeschlagene Medienhäuser betroffen wären.

Nau.ch: Wie wird das in anderen Bereichen sein? Wird man sich daran gewöhnen, dass der Bund für die Kantone entscheidet, gar das Ende des «Kantönligeists» einläutet?

Claude Longchamp: Der Bund ist in ausserordentlichen Lagen im Lead, hat ein Durchgriffsrecht auf die Kantone. Das ist in der Schweiz nicht üblich, jetzt aber nötig. Die Kantone haben ja grösstenteils vorgespurt. Das hat Druck gemacht, aber auch Unsicherheit ausgelöst.

Die neue Einheitlichkeit ist klarer, auch wenn sie den Föderalismus eingeschränkt. Das wird ja mit der Normalisierung wieder rückgängig gemacht.

So reagieren die Leute auf das sich ausbreitende Coronavirus. - Nau

Nau.ch: Wie gehen Sie persönlich mit der Corona-Krise um? Sie durften am Samstag gerade Geburtstag feiern – wir gratulieren natürlich herzlich. Aber jetzt dürfen Sie sich schon fast zur Gruppe der «Gefährdeten» zählen.

Claude Longchamp: Klar betrifft mich das als 63-jähriger. Ich halte mich an das «Social Distancing», habe alle Veranstaltungen abgesagt und an der Uni unterrichte ich neu virtuell. Ich bin auch willens, das so weiterzuziehen, selbst wenn es dauert.

Ich mache das nicht nur wegen dem Alter, sondern ich habe begriffen, dass ich auch andere nicht gefährden soll. Professor Aguzzi (Leiter des Instituts für Neuropathologie am Universitätsspital Zürich, Anmerkung der Redaktion) hat mich überzeugt. Wenn 20 Personen zusammenstehen, ist die Gefahr einer Verbreitung bereits 1:5.

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Eine McDonalds-Filiale ist wegen des Coronavirus geschlossen. (Archivbild) - Keystone

Natürlich tut es für einen Menschen, der immer in der Öffentlichkeit war, weh, keine Beiz und keine Bibliothek zu haben. Aber ich habe grosses Verständnis dafür.

Nau.ch: Können Sie sich an vergleichbare Situationen in der Schweiz erinnern?

Claude Longchamp: Als Historiker muss ich sagen: Ja. Sachlich gesehen wäre es die spanische Gruppe von 1918, aber die war x-fach schlimmer. Persönlich habe ich nichts dergleichen erlebt.

Am ehesten fühle ich mich jedoch an Tschernobyl erinnert. Die unsichtbare radioaktive Wolke hat auch mir stark aufs Gemüt geschlagen.

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