Erstmals seit Ausbruch der Corona-Pandemie gibt das Bundesverfassungsgericht der Politik klare Leitlinien an die Hand. Der Schutz von Leben und Gesundheit rechtfertigt auch einschneidende Massnahmen.
Das Bundesverfassungsgericht kam zu dem Ergebnis, dass die Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen in erheblicher Weise in verschiedene Grundrechte eingreifen - «in der äussersten Gefahrenlage der Pandemie» seien sie aber mit dem Grundgesetz vereinbar gewesen. Foto: Nadine Weigel/dpa
Das Bundesverfassungsgericht kam zu dem Ergebnis, dass die Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen in erheblicher Weise in verschiedene Grundrechte eingreifen - «in der äussersten Gefahrenlage der Pandemie» seien sie aber mit dem Grundgesetz vereinbar gewesen. Foto: Nadine Weigel/dpa - dpa-infocom GmbH
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Das Wichtigste in Kürze

  • Die zentralen Massnahmen der sogenannten Corona-Notbremse des Bundes aus der dritten Pandemie-Welle sind verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

Das Bundesverfassungsgericht wies mehrere Klagen ab, die sich gegen die im Frühjahr angeordneten Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen sowie Schulschliessungen richteten. Die Grundrechtseingriffe seien durch «überragend wichtige Gemeinwohlbelange» gerechtfertigt gewesen, teilte das Karlsruher Gericht am Dienstag mit. (Az. 1 BvR 781/21 u.a.)

Der geschäftsführende Gesundheitsminister Jens Spahn sieht nach der Corona-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Klarheit für weitere Krisenmassnahmen. «Die Bundesnotbremse war verhältnismässig, weil der Staat Leben und Gesundheit seiner Bürger schützen musste», sagte der CDU-Politiker mit Blick auf die Gerichtsbeschlüsse. «Das sollte jetzt auch den Parteien Orientierung bieten, die wegen verfassungsrechtlicher Bedenken schärfere Massnahmen bislang ausgeschlossen haben.»

Spahn betonte, der Richterspruch sei jedoch auch kein Freibrief für willkürliche Eingriffe in Grundrechte. Bundesweite Einschränkungen des öffentlichen Lebens müssten zeitlich befristet sein, regional ausdifferenziert werden und sich am Pandemiegeschehen orientieren. «Das sollte jetzt wieder so sein. Wir brauchen entschlossenes staatliches Handeln, um die vierte Welle zu brechen.»

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) sieht sich durch die Entscheidungen aus Karlsruhe in seinen Forderungen bestärkt. Er schrieb auf Twitter: «Das ist die Grundlage für eine neue Bundesnotbremse. Wir müssen jetzt schnell handeln.»

Die beiden Beschlüsse des Ersten Senats unter Gerichtspräsident Stephan Harbarth sind die ersten grundsätzlichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu den Freiheitsbeschränkungen in der Corona-Pandemie. Bisher war über die Verfassungsmässigkeit der verschiedenen Massnahmen viel gestritten worden.

Formal beziehen sie sich auf den einstigen Massnahmen-Katalog des Paragrafen 28b, der am 22. April 2021 als «Bundes-Notbremse» ins Infektionsschutzgesetz eingefügt worden war und bis Ende Juni in Kraft blieb. Der Bund wollte damit sicherstellen, dass überall im Land dieselben Massnahmen greifen, sobald sich die Corona-Lage in einer Region zuspitzt. Das hatte eine Klagewelle ausgelöst.

Notbremse abhängig von Inzidenz

Die Notbremse musste automatisch gezogen werden, wenn die sogenannte Sieben-Tage-Inzidenz in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt an mehreren Tagen die 100 überschritt. Der Wert gibt an, wie viele Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner es binnen einer Woche gibt.

Vorgesehen war dann unter vielem anderem, dass nachts zwischen 22.00 und 5.00 Uhr niemand mehr draussen sein durfte. Nur Sport allein war bis 24 Uhr erlaubt. Ausserdem gab es verschiedene Ausnahmen, zum Beispiel in medizinischen Notfällen, wegen des Berufs oder «zur Versorgung von Tieren». Menschen aus einem Haushalt durften sich nur mit einer anderen Person und deren Kindern bis 14 Jahre treffen.

Die Richterinnen und Richter kommen zu dem Ergebnis, dass diese Massnahmen in erheblicher Weise in verschiedene Grundrechte eingreifen - «in der äussersten Gefahrenlage der Pandemie» seien sie aber mit dem Grundgesetz vereinbar gewesen. Der Gesetzgeber habe damals die rasante Verbreitung des Virus bremsen wollen, um die medizinische Versorgung bundesweit sicherzustellen. Dies habe «auf tragfähigen tatsächlichen Erkenntnissen» aus der Wissenschaft beruht. Experten würden auch weitgehend darin übereinstimmen, «dass jede Einschränkung von Kontakten zwischen Menschen einen wesentlichen Beitrag zur Eindämmung von Virusübertragungen leistet».

Weiter heisst es: «Umfassende Ausgangsbeschränkungen kommen nur in einer äussersten Gefahrenlage in Betracht.» Der Gesetzgeber habe damit indirekt abendliche Treffen in Innenräumen verhindern wollen. «Angesichts der bestehenden Erkenntnislage» sei dies «verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden» gewesen.

Recht auf schulische Bildung

Mit ihrer Entscheidung zu den Schulschliessungen erkennen die Richter erstmals ein «Recht der Kinder und Jugendlichen gegenüber dem Staat auf schulische Bildung» an. Das Verbot von Präsenzunterricht beeinträchtige dieses Recht schwerwiegend. Der Gesetzgeber habe angesichts der Situation im Frühjahr aber annehmen dürfen, «dass zwischenmenschliche Kontakte an den massgeblichen Kontaktorten umfassend "heruntergefahren" werden müssen».

Den Schulen war damals vorgegeben, ab dem Schwellenwert 100 auf Wechselunterricht umzustellen, ein Teil der Schüler musste also zu Hause bleiben. Ab einer Sieben-Tage-Inzidenz von 165 war Präsenzunterricht ganz untersagt, es gab aber eine Notbetreuung und Ausnahmen, zum Beispiel für Abschlussklassen. Das ist für die Verfassungsrichter ein wichtiges Kriterium. Ausserdem sei Distanzunterricht «im Grundsatz gewährleistet» gewesen.

Die zusätzlichen Belastungen der Eltern seien «nur eine ungewollte Nebenfolge». Finanzielle Einbussen seien ausserdem abgefedert worden.

Beide Beschlüsse wurden von allen acht Richterinnen und Richtern des Senats einstimmig mitgetragen. Damit ist auch geklärt, dass der Bund formal befugt ist, Corona-Massnahmen direkt festzuschreiben. Auch der Automatismus, wonach die «Notbremse» bei bestimmten Grenzwerten aktiviert und wieder deaktiviert wird, findet Zustimmung.

Im frisch überarbeiteten Gesetz der künftigen Ampel-Koalitionäre sieht der Paragraf anders aus und enthält nun zum Beispiel die 3G-Regel am Arbeitsplatz. Angesichts der Wucht der vierten Welle und der neuen Omikron-Variante wurde der Ruf nach einer erneuten Verschärfung des Infektionsschutzgesetzes zuletzt aber immer lauter.

Buschmann: «Anderes Ergebnis gewünscht»

Der designierte Justizminister Marco Buschmann (FDP) sieht nach Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts keine Notwendigkeit für eine Kurskorrektur der Ampel-Parteien. Für die zur FDP gehörenden Beschwerdeführer sagte er aber, dass «wir uns natürlich insbesondere mit Blick auf die Ausgangssperren ein anderes Ergebnis gewünscht hätten». Die Entscheidung zeige, dass eine Bundesregierung «einen sehr weiten Spielraum bei der Beurteilung der Lage und auch bei der Wahl der Instrumente zur Bekämpfung der Pandemie» habe, sagte Buschmann, derzeit noch Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Fraktion.

FDP-Parteichef Christian Lindner schrieb auf Twitter: «Das Bundesverfassungsgericht hat nun die Sicherheit gegeben, dass der Gesetzgeber einen weiten Rahmen in der Pandemiebekämpfung besitzt. Wann und wo er ausgeschöpft werden muss, bleibt eine politische Abwägung.» Und: «Aktuell ist klar, dass Kontakte weiter reduziert werden müssen.» Buschmann sagte, die Verfassungsbeschwerde habe zu mehr Rechtssicherheit bei Kontaktbeschränkungen geführt. Die Bundesländer sollten dieses Instrument nun nutzen.

Der Grünen-Gesundheitsexperte Janosch Dahmen schrieb bei Twitter, das Urteil gebe Rechtssicherheit für zusätzliche Schutzmassnahmen. Zuvor hatte er der dpa gesagt: «Wir brauchen einen einheitlichen Teil-Lockdown in vielen Regionen des Landes.» Schulen und Kitas sollten mit Masken und täglichen Tests aber möglichst offen bleiben.

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