Profitiert AfD? Merz-Chaos könnte für neue Regierung «Weckruf» sein
Friedrich Merz brauchte bei der Kanzlerwahl überraschend zwei Wahlgänge. Viel wichtiger als diese kleine Niederlage dürften nun aber politische Inhalte werden.

Das Wichtigste in Kürze
- Die Wahl von Friedrich Merz zum Bundeskanzler verlief nicht wie geplant.
- Ein Politologe ordnet ein, was das für die Regierung und für die Rolle der AfD bedeutet.
- Auch Schweizer Politiker nehmen dazu Stellung.
Friedrich Merz ist am Dienstag wie erwartet zum neuen Kanzler gewählt worden. Allerdings verlief die Entscheidung deutlich dramatischer als geplant. Im ersten Wahlgang verfehlte der CDU-Chef die nötige Mehrheit. Die Koalition aus Union und SPD stimmte nicht geschlossen für ihn.

Im zweiten Wahlgang schaffte Merz die Wahl zwar. Dennoch wurde die Niederlage von vielen Seiten als schlechtes Omen für die neue Regierung gedeutet. Hinter der Stabilität der schwarz-roten Koalition steht zumindest ein Fragezeichen.
Eine These, die diesbezüglich kursiert: Das Chaos hilft insbesondere der AfD. Sie könnte als grösste Oppositionspartei von einer allfälligen Schwäche der Merz-Regierung profitieren.
Politologe: Kurs ist wichtiger als Kanzlerwahl
Philipp Adorf, Politikwissenschaftler an der Universität Bonn, bestätigt gegenüber Nau.ch: «Gelingt es der neuen Regierung nicht, die erheblichen Herausforderungen des Landes überzeugend zu bewältigen, dürfte die AfD weiter an Zustimmung gewinnen.»
Allerdings dürften die unmittelbaren Folgen der Kanzlerwahl selbst «begrenzt bleiben». Adorf führt aus: «Entscheidend wird sein, welchen Kurs die Koalition nun einschlägt und wie geschlossen sie nach aussen auftritt.»
Die AfD versucht zwar schon, aus der zunächst missglückten Kanzlerwahl Profit zu schlagen. Das Ziel der Partei von Alice Weidel ist klar: Man will die CDU als stärkste Kraft rechts der Mitte ablösen. Entsprechend gebe es auch immer wieder Attacken.
«Jetzt behaupten Weidel und ihre Partei, Merz habe seine eigene Koalition von Anfang an nicht unter Kontrolle», so Adorf. Damit müsse der CDU-Chef immer mehr Zugeständnisse an die linkeren Kräfte machen, argumentiere die AfD. Sei es innerhalb oder ausserhalb der Koalition.
Merz-Chaos könnte sogar ein guter «Weckruf» sein
Wie überzeugend diese Argumentation sein wird, ist fraglich. Die Kanzlerwahl könnte sich sogar positiv auf die neue Regierung auswirken. Adorf erklärt: «Im positiven Sinne war dies ein heilsamer Weckruf für die neue Koalition.»
Denn jetzt müsse jedem Abgeordneten klar sein, dass die Marge bei Abstimmungen klein ist. Spielereien innerhalb der Koalition sind kaum möglich. «Auch dem Führungspersonal hat dieser Vorfall vor Augen geführt, dass man die eigene Mehrheit nicht als selbstverständlich ansehen darf.»
FDP-Schilliger: AfD profitiert weiterhin von Opferrolle
Wie blickt man in der Schweizer Politik auf eine mögliche Stärkung der AfD durch die ungewöhnlichen Kanzlerwahl-Ereignisse?
FDP-Nationalrat Peter Schilliger sagt: «Die Klatsche von Merz hat gezeigt, wie dünn die Mehrheit ist. Und wenn die Führung nicht funktioniert, ist die Opposition natürlich in der Stärke», sagt der Luzerner.

Schilliger findet es schlecht, dass man die in Umfragen nun sogar wählerstärkste Partei nicht einbinden kann: «So bleibt sie Opfer und Opfer werden in der Tendenz stärker. Damit schadet sich Deutschland selbst.» Dank Opposition und Opferrolle habe die AfD nämlich überhaupt erst so stark werden können.
Mitte-Pfister: Regierung muss «klare Kante» gegenüber AfD zeigen
Etwas anders sieht es Gerhard Pfister. Der Mitte-Präsident betont zunächst, dass man vorsichtig sein sollte, wenn man die deutsche Politik von der Schweiz aus beurteilt. «Deutschland hat eine andere Geschichte», sagt der Zuger Nationalrat.
Pfister erinnert daran, dass der deutsche Verfassungsschutz die AfD kürzlich als rechtsextrem eingestuft hat. «Es ist wichtig, dass eine gewählte Bundesregierung sehr klare Kante gegenüber der AfD zeigt», ist für ihn klar. Egal, ob das letztlich der AfD nützt oder nicht.

Gleichzeitig müsse man zwischen den Exponenten einer Partei und denjenigen, die sie wählen, unterscheiden. «Die Wählerinnen und Wähler der Partei sind selbstverständlich nicht alle rechtsextrem», sagt Pfister.
Nun müsse die neue Regierung schlicht liefern: «Gegen populistische Parteien hilft gutes Regieren und das ist jetzt die Verantwortung dieser Koalition.»
Am Donnerstagnachmittag setzte der Verfassungsschutz die Einstufung der AfD als rechtsextrem indes vorübergehend wieder aus. Bald soll ein Gericht urteilen.
Dach bei 30 Prozent?
Bleibt die Frage, wie stark die AfD überhaupt noch werden kann. Sie liegt jetzt in Umfragen bereits bei rund 25 Prozent. Adorf betont allerdings: «Weiterhin können sich ungefähr 60 Prozent aller Deutschen nicht vorstellen, jemals für die AfD zu stimmen.»

So betrachtet wäre das absolute Maximum für die Weidel-Partei bei rund 40 Prozent. Laut Politikwissenschaftler Adorf ist ein Ergebnis «in den hohen Zwanzigern oder gar um die 30 Prozent» bei der nächsten Bundestagswahl nicht ausgeschlossen. «Insbesondere dann, wenn die derzeitige Koalition vorzeitig zerbricht.»
Ähnlich sieht es der FDP-Nationalrat Schilliger: «Ich glaube, dass es irgendwann dann schon eine Grenze gibt.» Die AfD habe auch viele Gegner. «Ich vermute, dass irgendwo bei 30 Prozent das Dach erreicht ist», so das Fazit des Luzerners.
Regierungsbeteiligung könnte AfD mässigen
Adorf spricht von einem «gewissen Teufelskreis». Mit der immer stärkeren AfD muss die Koalition immer breiter werden, um eine Mehrheit bilden zu können. Das wiederum dient dem Narrativ der AfD, die einzige wirkliche Oppositionspartei zu sein.
Die AfD in die Regierung einzubinden, ist dann aber auch heikel. «Unbestritten problematisch für eine mögliche Einbindung ist die zunehmende Radikalisierung der Partei», sagt Adorf.

Gleichzeitig sagt er: «Doch es liesse sich argumentieren, dass sich diese Entwicklung durch die Aussicht auf Regierungsbeteiligung bremsen liesse.» Heisst: Wenn es die Möglichkeit geben würde, politische Macht zu erlangen, könnten die gemässigten Stimmen in der AfD Auftrieb erhalten.
Klar ist: Der Druck auf die neue Regierung um Bundeskanzler Friedrich Merz ist gross. Gemessen wird sie letztlich an ihrer Politik – und nicht daran, wie die Kanzlerwahl abgelaufen ist.