Darum könnte Israel mit Annektierung des Westjordanland vorpreschen
Ab dem 1. Juli kann Israel die Annektierung des Westjordanland umsetzen. Doch Kritik am Plan gibt es zuhauf. Die ganze Region könnte destabilisiert werden.

Das Wichtigste in Kürze
- Aufgrund des US-«Friedensplans» könnte Israel das Westjordanland annektieren.
- Die EU erwägt Sanktionen gegen Israel.
- Für Israels Benjamin Netanjahu hingegen drängt die Zeit zur Umsetzung.
Der 1. Juli war Stichtag: Seit Mittwoch kann der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu die Annektierung des Westjordanlands umsetzen. Dieser Stichtag wurde im Koalitionsvertrag zwischen Netanjahus rechtskonservativer Likud-Partei und dem Mitte-Bündnis Blau-Weiss von Verteidigungsminister Benny Gantz festgelegt.
Nun könnte Netanjahu erste Schritte einleiten. Dabei geht es um rund 30 Prozent des 1967 im Sechstagekrieg eroberten Westjordanlands.

Die restlichen 70 Prozent sollen Teil eines Palästinenserstaates werden. Allerdings unter strengen Auflagen. So sieht es der «Friedensplan» der US-Regierung vor.
400'000 israelische Siedler
Im UN-Teilungsplan von 1947 wurde das Gebiet der ehemalig britischen Kolonie dem noch zu gründenden Palästinenserstaat zugesprochen. Nach Besetzung durch Jordanien steht es seit dem Sechstagekrieg unter israelischer Militärverwaltung. Ostjerusalem und Umgebung sind seit 1980 von Israel gar völkerrechtswidrig annektiert. Heute leben rund drei Millionen Palästinenser und mehr als 400'000 israelische Siedler im Westjordanland.
Zwar hat der Nahost-Plan von US-Präsident Donald Trump frischen Wind in den bisherigen Status Quo gebracht. Im Gegensatz zu Israel ist die palästinensische Seite nicht in den Prozess eingebunden worden. Darum kann kaum von einem Friedensprozess gesprochen werden.

Ohnehin ist der Willen der Palästinenser, an einer Lösung zu arbeiten, gering. Dies auch wegen der einseitigen Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels durch die USA.
EU erwägt Sanktionen bei Annektierung von Westjordanland
Kritik an den israelischen Plänen gibt es zuhauf. Etwa vonseiten der Europäischen Union, welche die Annexion als Verstoss gegen internationales Recht einstuft.
Sie erwägt gar Sanktionen. Aber auch UN-Generalsekretär Antonio Guterres fordert ein Ende der Pläne. Und selbst Briten-Premier Boris Johnson hat Israel dazu aufgerufen, von einer Annexion abzusehen.
Diese könnten die mehr als viertel Jahrhundert langen internationalen Friedensbemühungen zunichte machen, kritisieren Experten. Und sie befürchten, dass die Annexion zu einer neuen Spirale der Gewalt in der Region führt.

Auch innerhalb Israels gib es Warnrufe. Eine Annexion wäre «ein Desaster für unsere nationale Sicherheit», so Sicherheitsexperte Amos Gilad gemäss DPA. Er befürchtet, dass die derzeit stabilen Beziehungen zu arabischen Staaten, etwa zu Saudi-Arabien, schweren Schaden nehmen.
Im Kampf gegen den Iran seien arabische Staaten strategische Partner geworden. «Warum müssen wir sie verärgern?», wirft er in den Raum.
Unruhe für ganze Region
Das Vorhaben könnte zudem noch mehr Unruhe in eine sonst schon destabilisierte Region bringen. Insbesondere in Jordanien, dem stabilsten Nachbarland Israels, werden Unruhen befürchtet. Denn über 50 Prozent der arabischen Bevölkerung des Landes hat palästinensische Wurzeln.
Dem Friedensabkommen von 1994 mit Israel – ein Meilenstein im Nahostkonflikt – droht die Kündigung. Israel würde damit zeigen, dass es den Konflikt einer Friedenslösung vorziehe, «und die Konsequenzen tragen», so Jordaniens Aussenminister Aiman Safadi.

Für die Annexionspläne von Netanjahu gibt es also kaum Unterstützung. Nicht mal mehr Koalitionspartner Gantz steht hinter dem Vorhaben. Aus seiner Sicht habe der Kampf gegen das Coronavirus derzeit Vorrang. Einzig aus Kreisen der US-Regierung gibt es noch Unterstützung.
Trotzdem könnte Benjamin Netanjahu nun vorpreschen. Denn für den 70-jährigen Ministerpräsidenten wird es knapp, will er seine «Lebensaufgabe» durchbringen. Im Juli wird der Prozess gegen den wegen Bestechung, Betrug und Vertrauensbruch angeklagten weitergehen.
Und die US-Wahlen stehen an. Trump-Herausforderer Joe Biden lehnt ein israelisches Westjordanland ab.