Die Nordirland-Frage bleibt auch nach dem britischen EU-Austritt heikel. Äusserst mühsam hatten die EU und Grossbritannien eine Lösung gefunden. Doch nun bricht der Streit wieder auf.
Eine Flagge der Europäischen Union und eine Flagge von Grossbritannien wehen vor dem Parlament in Westminster. Foto: Kirsty O'connor/PA Wire/dpa
Eine Flagge der Europäischen Union und eine Flagge von Grossbritannien wehen vor dem Parlament in Westminster. Foto: Kirsty O'connor/PA Wire/dpa - dpa-infocom GmbH
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Das Wichtigste in Kürze

  • Im Brexit-Streit wirft die Europäische Union Grossbritannien Vertragsbruch vor und startet rechtliche Schritte.

Dies teilte die EU-Kommission am Montag mit.

Ziel ist, Grossbritannien zur Umsetzung der Sonderregeln für Nordirland im EU-Austrittsvertrag zu bringen. Doch könnte das Verfahren die ohnehin gespannten Beziehungen der EU zu Grossbritannien weiter belasten.

Der zuständige EU-Kommissionsvize Maros Sefcovic kritisierte «einseitige Entscheidungen und Verstösse gegen internationales Recht durch Grossbritannien». Diese stellten das sogenannte Nordirland-Protokoll im Austrittsvertrag in Frage und höhlten das Vertrauen beider Seiten aus, warnte Sefcovic.

Die britische Regierung verteidigte die umstrittene Massnahmen hingegen als rechtskonform und «Teil einer progressiven Umsetzung des Nordirlandprotokolls im guten Willen», wie es in einer Mitteilung aus dem Londoner Regierungssitz Downing Street am Montag hiess. Man habe die Schreiben aus Brüssel erhalten und werde zu gegebener Zeit darauf reagieren. London hatte einseitig Übergangsfristen, unter anderem für Lebensmittelkontrollen zwischen Grossbritannien und dem ebenfalls zum Vereinigten Königreich gehörenden Nordirland verlängert. Die Kontrollen waren im sogenannten Nordirland-Protokoll des Brexit-Abkommens vereinbart worden.

Das Nordirland-Protokoll sieht vor, dass einige Regeln des EU-Binnenmarkts für die britische Provinz Nordirland weiter gelten. Dies soll Kontrollen an der Grenze zum EU-Staat Irland auf der gemeinsamen Insel überflüssig machen. Doch entsteht damit eine Warengrenze zwischen Nordirland und dem übrigen Grossbritannien. Einfuhren müssen kontrolliert werden. Darüber beklagt sich die Wirtschaft. Nach dem Vollzug des Brexits zum Jahreswechsel blieben in Nordirland teils Supermarktregale leer.

Grossbritannien hatte mit der EU Übergangsfristen ohne volle Kontrollen ausgehandelt. Stein des Anstosses ist nun, dass Grossbritannien die Schonfrist einseitig verlängern will - wegen «oft übermässiger Konsequenzen» des Nordirland-Protokolls, wie es hiess. Darüber hinaus suspendierte London ebenfalls einseitig ein vereinbartes Importverbot für Pflanzen, die in Erde aus Grossbritannien eingetopft sind.

Sefcovic reagierte nun mit zwei Massnahmen: Zum einen leitete er ein Vertragsverletzungsverfahren wegen Verstössen gegen die EU-Regeln an, die in Nordirland weiter gelten. Dies kann zu einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof und letztlich zu Geldstrafen führen - allerdings wohl erst in Monaten oder Jahren. Zunächst hat Grossbritannien einen Monat zur Stellungnahme.

Darüber hinaus schrieb Sefcovic einen «politischen Brief» an seinen britischen Kollegen David Frost. Darin wird Grossbritannien aufgefordert, einseitige Ankündigungen zurückzunehmen. Diese seien ein Verstoss gegen das Vertrauensprinzip, auf das im Austrittsabkommen Bezug genommen wird. Ziel sei, den Konflikt binnen eines Monats zu lösen. Andernfalls könnte es zu einem Schlichtungsverfahren kommen. Möglich sind dabei ebenfalls finanzielle Sanktionen oder sogar eine Aussetzung von Klauseln des Austrittsabkommens wie auch des Ende 2020 geschlossenen Brexit-Handelsabkommens.

Frost hatte die EU-Kritik bereits im Vorfeld scharf zurückgewiesen und erklärt, die britischen Massnahmen seien rechtmässig. Er sprach von «vorübergehenden, operativen Schritten».

Für Grossbritannien sind die Nordirland-Regeln politisch heikel, weil sich Nordirland vom Rest des Vereinigten Königreichs abgekoppelt fühlen könnte. Eine alternative Regelung, bei der das ganze Vereinigte Königreich bis auf Weiteres enger an die EU gebunden geblieben wäre (Backstop-Lösung), hatte Premierminister Boris Johnson jedoch aufs Schärfste bekämpft. Die Folgen seiner Entscheidung stritt Johnson anschliessend immer wieder ab. London hatte im Herbst versucht, sie mit einem sogenannten Binnenmarktgesetz abzuwenden. Auch das sah Brüssel als Vertrags- und Vertrauensbruch und leitete ein Verfahren ein. Der Konflikt wurde letztlich beigelegt, das Binnenmarktgesetz zurückgezogen.

Die EU pocht auf die Einfuhrkontrollen, da sonst über Nordirland und Irland eine Art Hintertür in den EU-Binnenmarkt entstehen könnte. Im schlimmsten Fall müsste die EU doch an der inneririschen Grenze kontrollieren, was politisch als unannehmbar gilt. In Nordirland hatten sich bis zum Karfreitagsabkommen von 1998 jahrzehntelang Befürworter eines unabhängigen vereinten Irlands und Anhänger der Union mit Grossbritannien bekämpft. Unter dem Dach der EU wurden dann beide Teile der Insel ein gemeinsamer Wirtschaftsraum ohne sichtbare Grenze. Die Befürchtung ist, dass der Brexit die Insel erneut teilt.

Zwischen London und Brüssel ist der Ton inzwischen sehr rau, zuletzt auch im Konflikt um Corona-Impfstoff. EU-Ratspräsident Charles Michel warf Grossbritannien vor, einen Exportstopp verhängt zu haben. London wies dies empört zurück. Dabei geht es vor allem um das Mittel des britisch-schwedischen Herstellers Astrazeneca, der grosse Mengen in Grossbritannien herstellt und dort auch liefert. Die Lieferpflichten an die EU hält das Unternehmen hingegen nicht ein, unter anderem mit dem Hinweis auf Exportbeschränkungen.

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