Von Bern nach Berlin: «Beschimpft zu werden, gehört zum guten Ton!»
«Ich sch*** schneller, als du dein Ticket löst!» So schamlos begrüsst mich Berlin – und liefert damit den Auftakt zu einer ganzen Reihe ruppiger Begegnungen.

Das Wichtigste in Kürze
- Unsere Schweizer Kolumnistin Mirjam Walser lebt seit einigen Jahren in Berlin.
- Dort machte sie schnell Bekanntschaft mit der berühmt-berüchtigten Berliner Schnauze.
- Schnell wird ihr klar: Für Empfindlichkeiten ist in der deutschen Hauptstadt wenig Platz.
- Ab sofort berichtet Walser einmal pro Monat aus Berlin.
«Berlin Ostbahnhof, bitte alle aussteigen! Und zwar schnell jetzt, ich habe hier nicht ewig Zeit!» So zuvorkommend klang es vor fast acht Jahren, als ich mein «Köfferli» in Bern gepackt hatte und Richtung Norden fuhr.
Ein paar Monate Grossstadtluft schnuppern. Mich dort niederzulassen, war nicht der Plan. Zu den Deutschen auswandern? Nein, danke.
Heute bin ich immer noch in Berlin. Und mein Mami hofft tapfer weiter, dass diese Phase irgendwann vorübergeht.
Kaum angekommen, folgte der erste Kulturschock. «He, Alte, haste keene Augen im Kopp?!», begleitet von einem aggressiven Klingeln.
Ich springe erschrocken zur Seite und sehe eine Dame mit blumengeschmücktem «Velo-Körbli» und pinken Strümpfen an mir vorbeizischen. Ich stand auf dem Velostreifen. Eine Todsünde in Berlin!
Da werden selbst friedliebende Hippies zu lautstarken Klingelkriegern, wie ich sehr schnell lernen sollte.
Berliner Schnauze: schamlos und schnell
Nur Minuten später begehe ich den nächsten Fehltritt. Ich will ein Billett für den Bus lösen. Und durchsuche mein Portemonnaie nach Kleingeld. Die Karte wird nicht akzeptiert, was hier niemanden überrascht, ausser mich.
Die innige Liebesbeziehung der Deutschen zu ihrem Bargeld werde ich noch ausgiebig kennenlernen. Während ich also meine Euros zusammensuche, donnert es hinter mir: «He, Alte, beeil dich mal! Ich sch*** schneller, als du dein Ticket löst!»
Ich muss lachen, so schamlos ist das. Aber der Typ hinter mir meint es offenbar ernst.
Also Billet kaufen, auf den Bus sprinten und versuchen, dabei nicht erneut gegen irgendein ungeschriebenes Grossstadtgesetz zu verstossen.

Zweimal angeschnauzt innerhalb von fünf Minuten. Für eine höfliche Schweizerin ein mittlerer Schockzustand. Ich war Freundlichkeit gewohnt, Gemütlichkeit, ein nettes «Äxgüsi» als Gipfel der Eskalation.
In Berlin lernte ich rasch: Hier braucht man ein dickes Fell. Der Berliner Bär ist an andere Temperaturen gewöhnt. Der Alltag wird mit schneller Zunge und harten Worten bewältigt.
Bei 3,8 Millionen Einwohnern bleibt wenig Platz für gemütliche Schwätzchen an der Kasse – oder ein geduldiges «Entschuldigung» auf der Strasse.
Bin ich verrückt geworden?
In meiner neuen Wohnung angekommen – im fünften Stock, Altbau ohne Lift, eine tägliche Zumutung von epischem Ausmass – schaue ich aus dem Fenster.
Mein Blick bleibt am Fernsehturm hängen, diesem allgegenwärtigen Wahrzeichen Berlins, Orientierungspunkt und stummer Zeuge meiner Zweifel. Ich denke: Warum tue ich mir das an?

Bei mir wächst ein Berliner Fell
Zur Person:
Mirjam Walser (39) ist 2018 von Bern nach Berlin gezogen. In ihrer Kolumne berichtet sie über die Unterschiede und Gepflogenheiten der Hauptstädter – und was sie voneinander lernen können.
Doch schon bald zeigte sich: Genau in diese Ruppigkeit, diese freche Schnauze, die mich als brave, zurückhaltende Schweizerin zuerst komplett aus der Bahn warf, würde ich mich verlieben.
Denn: Sie hat weniger mit Unfreundlichkeit zu tun als mit einem Lebensgefühl. Schnell, direkt, hart an der Grenze. Aber mit solch einer humorvollen Frechheit, die alle Empfindlichkeiten dahinschmelzen lässt.
Während ich also der Berner Freundlichkeit noch etwas nachtrauere, wächst auch mir langsam ein Berliner Fell.
Und beim nächsten Besuch in der Schweiz werde ich feststellen, dass die «Assimilation» schneller ging als gedacht. Und dass die Berner Bären manchmal doch ziemlich laut zurück brüllen können. Doch dazu mehr in der nächsten Kolumne.







