2014 verliess Brasilien die Weltkarte des Hungers. Inzwischen ist für mehr als die Hälfte der Brasilianer die Ernährung nicht mehr gesichert, 19 Millionen leiden Hunger.
Menschen warten in Rio de Janeiro in einer Schlange auf eine kostenlose Mahlzeit. Foto: Silvia Izquierdo/AP/dpa
Menschen warten in Rio de Janeiro in einer Schlange auf eine kostenlose Mahlzeit. Foto: Silvia Izquierdo/AP/dpa - dpa-infocom GmbH
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Das Wichtigste in Kürze

  • Inmitten der ausser Kontrolle geratenen Corona-Pandemie in Brasilien ist der Hunger mit voller Wucht zurückgekehrt.

116,8 Millionen Brasilianer haben keinen vollständigen und dauerhaften Zugang zu Nahrung, 19 Millionen unter ihnen leiden Hunger, wie aus einer Studie des Brasilianischen Forschungsnetzwerks für Ernährungssicherheit (Rede PENSSAN) mit Daten vom Dezember hervorgeht. Damit sind mehr als 55 Prozent der Haushalte betroffen, ein Anstieg um 54 Prozent im Vergleich zu 2018. In der Corona-Pandemie überschritt das Land am Donnerstag die Marke von 400.000 Toten.

«Der Anstieg spiegelt die wirtschaftliche Krise in der Mittelklasse», sagt die Ernährungswissenschaftlerin von der Rede PENSSAN, Rosana Salles, der Deutschen Presse-Agentur. Jene, die in der Corona-Pandemie ihren Job verloren hätten oder in Kurzarbeit seien, müssten sich nun oftmals überlegen, ob sie noch Fleisch kaufen oder nur zwei statt drei Mahlzeiten am Tag zu sich nehmen sollten - so wie eine Freundin von Salles, eine Künstlerin.

Die Zahlen bestätigen den Eindruck des Geschäftsführers der Nichtregierungsorganisation Ação da Cidadania, Daniel de Souza, aus Rio de Janeiro, wo sich vor Essensausgabestellen lange Schlangen bilden. «Es fällt auf, dass Leute, die davor gespendet haben, jetzt um eine Lebensmittelspende bitten.» Lokale Initiativen holen im Lager der Ação da Cidadania Säcke mit Nahrungsmitteln ab, die mit Spenden gekauft wurden, und verteilen sie.

Brasilien, vor allem der Nordosten, ist immer wieder von Hunger heimgesucht worden. 2014 nahmen die Vereinten Nationen das grösste und bevölkerungsreichste Land Lateinamerikas jedoch erstmals von der Landkarte des Hungers. Nun droht die Rückkehr.

Der frühere Staatschef Luiz Inácio Lula da Silva (2003-2011) hatte den Kampf gegen den Hunger zu einer seiner Prioritäten erklärt. Der Sohn einer armen Familie aus dem Nordosten wollte jedem Brasilianer drei Mahlzeiten am Tag verschaffen. Hohe Rohstoffpreise und neu entdeckte Ölvorkommen halfen ihm, Sozialprogramme wie «Fome Zero» (Null Hunger) zu finanzieren. Die Wirtschaft wuchs, die Armut ging zurück. Es wurde jedoch auch Kritik laut, dass das Symptom, aber nicht die Ursache bekämpft wird. Der seit 2019 regierende Präsident Jair Bolsonaro dagegen setzte in einer seiner ersten Amtshandlungen den Nationalen Rat für Ernährungssicherheit aus.

Die Ação da Cidadania sieht den Hunger bereits seit 2017 allmählich wieder zunehmen. Wirtschaftskrise und Einschnitte in den Sozialprogrammen liessen viele Menschen zurückfallen, Hunger leiden. Aber die Corona-Pandemie verstärkte die Entwicklung erst so richtig. Die Wirtschaft stürzte ab, das Bruttoinlandsprodukt schrumpfte Schätzungen zufolge 2020 um 4,3 Prozent, ein Teil der Jobs fiel weg.

Laut der am Freitag veröffentlichten Daten der Statistikbehörde Brasiliens lag die Arbeitslosenquote im Land im ersten Quartal bei 14,4 Prozent. Der Direktor des UN-Welternährungsprogramms in Brasília, Daniel Balaban, aber sagt: «Das Ende der Pandemie wird das Problem nicht lösen, solange nicht seine Wurzel angegangen, neue Arbeit geschaffen wird und die Leute ausgebildet werden.»

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