Alanis Morissette: Mit Musik habe ich mein Trauma verarbeitet
Im Jahr 2021 machte die Sängerin öffentlich, dass sie als Jugendliche sexualisierte Gewalt erlebt hatte. In Oxford sprach sie nun über ihren Heilungsweg.

Das Wichtigste in Kürze
- Alanis Morissette erzählte in einer Doku, dass sie als Teenager sexuell missbraucht wurde.
- Bei der Trauma-Konferenz in Oxford sprach sie über Heilung durch Kreativität & Beziehung.
- Für Alanis ist Kunst kein Auftritt, sondern ein Weg, Schmerz in Heilung zu verwandeln.
Im Jahr 2021 machte Alanis Morissette öffentlich, dass sie als Jugendliche sexualisierte Gewalt erlebt hatte. Bei der diesjährigen Transform Trauma Conference in Oxford sprach die kanadische Sängerin darüber, wie sie aus dieser Erfahrung Heilung finden konnte und welche Rolle Kreativität und Verbindung dabei spielten.
In dem Moment, in dem sie die Bühne des New Theatre in der George Street betrat, schien der ganze Raum aufzuleuchten, als stünde er in Flammen. Man konnte spüren, dass dies nicht einfach eine weitere Keynote war. Das war ein Weltstar. Die Luft trug eine andere Art von Erwartung, nicht die professionelle Neugier, die während der anderen ausgezeichneten und bekannten Sprecherinnen und Sprecher im Saal geherrscht hatte, sondern etwas Elektrisches.
Seit Jahren thematisiert Morissette öffentlich psychische Gesundheit und Selbstheilung. Was als persönliche Bewältigung begann, ist längst Teil eines grösseren Dialogs geworden. Ihre Musik, ihre Interviews, ihre Auftritte – alles trägt den Versuch in sich, Schmerz in Kreativität und Verbindung zu verwandeln. Gleich zu Beginn ihrer Rede formulierte sie einen zentralen Satz: «Fame was an exaggerator of that which was already there.» Ruhm, sagte sie, verstärke lediglich, was ohnehin vorhanden sei.
Von der Scham zur Selbstverbindung
In der Dokumentation Jagged sprach Morissette erstmals über ihre Erfahrungen als Jugendliche und über die Jahre, in denen sie sich selbst einredete, sie habe zugestimmt, bis sie in der Therapie begriff, dass das nicht möglich war. Sie erzählte von der Zeit, in der sie sich mit Alkohol betäubte, von der Flucht in Arbeit und Leistungsdruck, und davon, dass Heilung erst begann, als sie ihre Stimme wieder ernst nahm – nicht die gesangliche, sondern die innere.

Kreativität wurde für sie zur Rückverbindung. Schreiben, Komponieren, Singen – all das wurde zu einer Sprache, durch die sie Gefühle ausdrücken konnte, die jenseits von Worten lagen. «Es war eine Berufung, immer wieder aufzutauchen, immer wieder zu dienen, das Erlebte in etwas Neues zu verwandeln.» Was zunächst Selbstklärung war, wurde zu einem öffentlichen Akt des Teilens. «Wenn ich ein Lied veröffentliche», sagte sie, «gehört es nicht mehr mir. Es gehört denen, die es brauchen.»
Aufgewachsen in einem Umfeld, das sie als «halb narzisstisch» bezeichnete, habe ihr lange ein verkörpertes Selbstgefühl gefehlt. «Von aussen wirke ich vielleicht stark, aber im Inneren war ich oft abwesend», sagte sie. «Ich musste erst lernen, im eigenen Körper zu Hause zu sein.» Erst nach Jahren der Therapie und Auseinandersetzung mit Trauma verstand sie, was es bedeutet, sich wieder sicher zu fühlen – nicht nur psychisch, sondern auch körperlich.
Musik als Heilungschance
Musik, so Morissette, sei nie Flucht gewesen, sondern ein Weg hindurch. «Kreativität kann kein Ersatz für Heilung sein, aber sie kann ein Tor öffnen, durch das Heilung beginnt.» Besonders das Auftreten vor Publikum habe ihr geholfen, weil sich in diesen Momenten das Private in etwas Kollektives verwandle. «Auf der Bühne entsteht ein Dialog. Energie fliesst hin und zurück, und ich bleibe im Jetzt. Das ist keine Performance, es ist eine Form von Gebet.»

In ihrem Verständnis ist Kunst kein Produkt, sondern ein Prozess. Sie sei ein Mittel, um Erfahrungen zu verarbeiten, die im Gespräch allein keinen Ausdruck finden. Musik, Poesie, Ausdruck – sie alle bieten eine Sprache, die der Körper versteht. «Ich habe keine Lust, Menschen zu monologisieren», sagte sie. «Ich möchte in Beziehung treten, eine gemeinsame Resonanz schaffen.»
Diese Resonanz sei es, die sie immer wieder zur Musik zurückbringe. Schönheit und Schmerz könnten im selben Atemzug existieren. Ausdruck selbst sei eine Form des Überlebens. Während sie sprach, wurde klar, dass sie Kreativität nicht als Fluchtweg, sondern als Form von Verkörperung begreift – als Möglichkeit, das, was nicht ausgesprochen werden kann, in Bewegung zu bringen.
Heilung ist selten linear
Morissette erinnerte auch daran, dass Heilung keine lineare Bewegung sei. «Es ist keine gerade Linie. Es ist eine Spirale. Ich kehre zurück, aber nie an denselben Punkt.» Sie erzählte, wie sie diese Haltung auch an ihre Kinder weitergibt. Ihr Sohn, sagte sie, habe eines Tages seine Wut nicht mit Worten ausgedrückt, sondern gezeichnet. «Er zeichnete Monster», erzählte sie, «und ich dachte: Gut so. Er schlägt niemanden. Er kanalisiert. Gefühle bewegen sich durch uns, und sie bringen Botschaften – nicht immer angenehme, aber wichtige.»
Was sie beschreibt, deckt sich mit Erkenntnissen aus der modernen Traumaforschung. Kreative Prozesse – ob Musik, Bewegung oder Malen – aktivieren jene Bereiche des Gehirns, in denen traumatische Erinnerungen gespeichert sind. Studien zeigen, dass Kunst- und Musiktherapie die Stressregulation fördern, das Nervensystem beruhigen und Verbindungen zwischen Körper und Geist wiederherstellen können. Rhythmus und Wiederholung sind, wie der Traumaforscher Bessel van der Kolk es formulierte, «der königliche Weg zur Selbstregulation».
Doch Morissette machte deutlich: Heilung geschieht nicht im Alleingang. «Ich dachte naiv, wenn ich bestimmte Songs oft genug singe, würde das alles heilen. Aber Kunst ohne Beziehung ist nur Katharsis. Sie bewegt etwas, aber sie repariert nichts. Heilung braucht Beziehung.» Verletzung entstehe meist im Kontakt mit anderen – und Heilung ebenso. Nicht nur auf der Bühne, sondern im Alltag, in echten Begegnungen, in der Fähigkeit, präsent zu bleiben, auch wenn es unbequem wird.
Sensibilität als Geschenk
Alanis beschrieb Sensibilität als eine Gabe, die Grenzen braucht, um klar zu bleiben. «Sensibilität ist kein Fehler, sondern ein Kompass. Grenzen sind das, was ihn zuverlässig macht.» Und sie sprach über Humor. «Lachen ist für mich die spirituellste Form der Verbindung. Es ist, als würde man für einen Moment dieselbe Frequenz spüren, denselben Gedanken teilen. Humor entsteht nicht aus Verdrängung, sondern aus Genesung.»
Am Ende fasste sie zusammen, was sie in mehr als drei Jahrzehnte als Künstlerin und Mensch gelernt hat: Verkörperung, Kreativität, Verbindung und Freude. Diese vier Pfeiler bilden für sie das Fundament eines gesunden Lebens. Sie sind keine Abkürzung, aber sie sind Wegweiser zurück zu sich selbst.

Alanis Morissette ist, in jeder Hinsicht, eine aussergewöhnliche Frau – nicht wegen ihres Ruhms, sondern weil sie zeigt, was wahre Stärke bedeutet: Schmerz in Sinn zu verwandeln, Kunst als Gebet zu leben und durch Verbindung Heilung zu schaffen. Ihr Weg erinnert daran, dass Authentizität keine Pose ist, sondern eine tägliche Praxis. Und dass echte Freude kein Zufall ist, sondern ein Zeichen dafür, dass Heilung tatsächlich begonnen hat.
Über die Autorin
Judith Heede ist deutsche Journalistin und Autorin mit den Schwerpunkten Mental Health und Reisen. Sie schreibt über die Wechselwirkungen von Psyche, Kultur und Heilung und veröffentlicht ihre Essays und Gespräche auch auf ihrem unabhängigen Substack-Kanal «Just Judith», wo es um Trauma, Transformation und inneres Wachstum geht.














