Kolumne

Die Wahrheit über Essstörungen, über die niemand spricht

Judith Heede
Judith Heede

Bern,

Essstörungen sind keine Frage von Disziplin oder Schönheit, sondern von Schmerz, Scham und Selbstverlust. Ein Gespräch über das, was selten ausgesprochen wird.

Judith Heede
Autorin Judith Heede spricht mit einer Expertin über Essstörungen und darüber, wie sie selbst die Krankheit überwunden hat. - Judith Heede

Das Wichtigste in Kürze

  • In der Schweiz leiden rund 3,5 % der Bevölkerung an einer Essstörung.
  • Ca. 1 % der Frauen leiden an Anorexie, 2 % an Bulimie und ebenso viele an Binge Eating.
  • Scham und Angst vor Bewertung führen dazu, dass viele Betroffene keine Hilfe suchen.

In der aktuellen Netflix-Dokumentation «Victoria Beckham» spricht die Modedesignerin zum ersten Mal offen über ihre Essstörung. In Archivausschnitten sieht man, wie Schlagzeilen ihren Körper zum öffentlichen Thema machen. Wenige Monate nach der Geburt ihres ersten Sohnes wird sie vor laufender Kamera gewogen.

Diese Bilder erzählen von der globalen Haltung, Frauenkörper als öffentliche Projektionsfläche behandeln zu dürfen. Essstörungen wurden öffentlich verurteilt, statt verstanden.

Gerade darin liegt ein Kernproblem der gesellschaftlichen Wahrnehmung. Während andere psychische Erkrankungen meist auf Sorge und Mitgefühl stossen, werden Essstörungen noch zu oft als oberflächliche Eitelkeit abgetan. Für viele Betroffene bedeutet das ein Leben im Verborgenen – geprägt von Scham, Selbstkontrolle und der Angst, nicht ernst genommen zu werden.

Keine andere Krankheit wird so stark verurteilt

Genau darüber spreche ich mit Lauren Helen, klinische Ernährungstherapeutin und kognitive Verhaltenstherapeutin aus Kapstadt, die seit Jahren Menschen mit Essstörungen behandelt und die Mechanismen hinter Symptom, Stigma und Heilung präzise beschreibt.

Jahrelang wurde die öffentliche Debatte über diese Krankheiten durch eine verzerrte Linse betrachtet, die vor allem weibliche Betroffene auf fragile Narzisstinnen reduzierte – getrieben von Eitelkeit oder mangelndem Selbstwert, den sie durch ein perfektes Äusseres zu kompensieren versuchten. Zwar kann Unsicherheit eine Rolle spielen, doch die Realität ist weit komplexer.

Voctoria Beckham
Über Jahre wurde das ehemalige Spice Girl zur Zielscheibe öffentlicher Häme und ihr Körper zum Objekt medialer Beschämung. - Depositphotos

Über viele Jahrzehnte bestimmten Männer, worüber in der Psychologie geforscht und gesprochen wurde. Themen, die Männer betrafen – etwa Alkohol- oder Drogenabhängigkeit – galten als ernsthafte Krankheiten und wurden entsprechend untersucht.

Ganz anders der Blick auf Essstörungen: weil sie überwiegend Frauen betrafen, wurden sie lange verharmlost oder moralisch bewertet. Statt die seelischen Ursachen zu erkennen, deutete man sie als Ausdruck von Aufmerksamkeitsbedürfnis, Kontrollverlust oder dem Wunsch, einem modischen Ideal zu entsprechen. Dieses Ungleichgewicht prägte die öffentliche Einstellung gegenüber der Krankheit über Jahrzehnte hinweg.

Die meist missverstandene Sucht überhaupt

Lauren leitet ihre eigene Klinik und arbeitet mit der Schweizer Balance Rehab Clinic zusammen. Sie erklärt dieses Phänomen mit bemerkenswerter Klarheit:

«Viele Menschen mit Essstörungen sind hochgradig autonom», sagt sie. «Die Krankheit ist regelrecht darauf aus, dass du in der Art und Weise, wie sich deine Essstörung zeigt, einzigartig bist. Deshalb funktionieren Gruppensitzungen oft nicht.»

Als ehemalige Betroffene kann ich das gut nachvollziehen. Ich wurde jahrelang von Menschen verurteilt, die glaubten, ich würde hungern, um besonders oder wie ein Model auszusehen. Dieser Gedanke macht mich noch heute wütend, weil er das massive Leiden hinter den Symptomen völlig ignoriert. Essstörungen sind weit mehr als ein Kampf um Gewicht oder Kontrolle.

In einer männlich dominierten Welt wurden Essstörungen nie ernst genommen

Frühe Forschende sahen in Anorexie vor allem das Streben nach Kontrolle – als psychologischen Versuch, in einer unsicheren Welt Macht zurückzugewinnen. Eine der frühesten und einflussreichsten Studien, die diese Sichtweise prägten, wurde 1982 von Psychologe Michael Strober und seinen Kolleginnen veröffentlicht.¹

Sie untersuchten Jugendliche mit Anorexia nervosa und stellten eine deutliche Störung ihres Locus of Control fest, also ihres Glaubens an die eigene Fähigkeit, Ereignisse und Ergebnisse zu beeinflussen. Die Studie kam zu dem Schluss, dass Anorexie oft als Bewältigungsmechanismus entsteht, um Ordnung zu schaffen, wo das Leben chaotisch erscheint.

Für Lauren ist die Sache weitaus komplexer

«Essstörungen sind sehr missverstandene Krankheiten», sagt sie. «Und viele Fachleute wollen sich damit gar nicht befassen. Wenn man sich die alten pathologischen Konzepte anschaut, dann basieren sie stark auf dem Wunsch, dünn zu sein.

Aber dieser Wunsch ist sekundär: zu möglichen Traumata, emotionaler Entfremdung, einem Gefühl von Unsicherheit und unregulierten Bewältigungsmechanismen, die sich oft schon viel früher entwickeln.»

In grossen Teilen der modernen Psychologie blieb diese tiefere Komplexität lange unbeachtet. Krankheiten, die vor allem Frauen betrafen, galten häufig als Ausdruck von Eitelkeit oder mangelnder Selbstbeherrschung.

So entstand ein wissenschaftliches und gesellschaftliches Verständnis, das Essstörungen als ästhetisches Problem statt als psychologische Erkrankung betrachtete, als moralisches Versagen statt als Ausdruck inneren Schmerzes. Diese Verzerrung offenbart nicht nur eine Forschungslücke, sondern auch eine kulturelle Haltung, die weibliches Leiden seit Generationen gering schätzt.

Essstörungen gedeihen im Verborgenen

«Essstörungen führen zu einer extremen Abspaltung verschiedener Lebensbereiche», erklärt Lauren. «Das Geräusch der Essstörung wird so laut, dass es alles übertönt.

Deshalb ist es so wichtig, andere Lebensbereiche wiederzuentdecken: Was magst du ausserhalb der Essstörung? Wie würde es aussehen, wenn du einfach mal einen ‚Cheat Day‘ hättest?»

Leerer Teller, Hunger
Der Hunger ist zunächst weniger körperlich. Meist ist es die Seele, die satt werden möchte. - unsplash

Während der Corona-Pandemie, erzählt Lauren, sei die Zahl der Betroffenen sprunghaft angestiegen. Isolation und Schweigen wurden absolut. «Zum ersten Mal hatte ich genauso viele Männer wie Frauen in Behandlung», sagt sie. «Männer neigen eher zum Überessen, Frauen stehen unter grösserem Druck, dünn zu bleiben.

Manche erbrechen sich, andere hören einfach auf zu essen. Männer hingegen schämen sich meist noch stärker, weil Essstörungen als weiblich gelten. Es dauert oft sehr lange, bis sie zugeben, dass sie ein Problem haben und Hilfe brauchen.»

Was die Forschung dazu sagt

Scham und Geheimhaltung sind nicht nur Gefühle, sondern messbare Barrieren auf dem Weg zur Hilfe. Eine Studie aus dem Jahr 2024 im Journal of Eating Disorders untersuchte 333 Menschen mit ausgeprägten Essstörungssymptomen.²

Das Ergebnis: Wahrgenommene Stigmatisierung, Selbststigmatisierung und Scham sagten das Hilfesuchverhalten präzise voraus. Der stärkste Prädiktor dafür, ob jemand professionelle Hilfe in Anspruch nahm, war der Glaube: «Andere Menschen halten Essstörungen nicht für echte Krankheiten.»

Wenn Betroffene damit rechnen, abgewertet oder nicht ernst genommen zu werden, bleiben sie still. Obwohl die meisten Teilnehmenden erheblich litten, hatten weniger als die Hälfte je eine Behandlung begonnen.

Eine Studie von 2025 der University of South Australia vertiefte dieses Bild.³ In einem Experiment mit 235 Probandinnen und Probanden verglichen Forschende die öffentliche Haltung gegenüber Binge Eating, Anorexie und Bulimie mit der Haltung gegenüber Depression.

Essstörungen werden deutlich strenger beurteilt

Besonders Binge Eating wurde als selbstverschuldet betrachtet – verknüpft mit gewichtsbasierten Vorurteilen. Die Forschenden kamen zu dem Schluss, dass diese Fehleinschätzungen «direkt das Hilfesuchen und die Genesung behindern» und Scham und Isolation weiter verfestigen.

Auch qualitative Arbeiten mit Jugendlichen bestätigen das. Eine Studie von 2023 zeigte, dass Verleugnung, Angst vor Etikettierung und tiefe Scham viele junge Menschen davon abhalten, ihr Verhalten gegenüber Familien oder Therapeutinnen offenzulegen.

Geheimhaltung sei kein Widerstand, sondern Selbstschutz – der Versuch, Würde zu bewahren in einer Umgebung, die allzu oft moralisch urteilt statt empathisch reagiert. Diese Ergebnisse bestätigen, was viele intuitiv wissen: Schweigen ist keine Sturheit, sondern eine Überlebensstrategie in einer Welt, die noch immer nicht versteht.

Das Stigma bleibt enorm

«Es ist immer noch eine der am meisten missverstandenen Krankheiten der Welt», sagt Lauren. «Selbst Fachkräfte vermeiden die Behandlung, weil sie langsam, komplex und weniger ‚belohnend‘ ist als andere Therapieformen. Aber genau deshalb braucht sie mehr Aufmerksamkeit.»

Schwarz-Weiss, einsame Frau
Viele Betroffene leiden jahrelang im Verborgenen, gefangen zwischen Scham und Kontrolle, bis der Schmerz grösser wird als die Angst, um Hilfe zu bitten. - unsplash

Sie beobachtet, dass soziale Medien vieles verschlimmert haben. «Ich beginne Behandlungen oft damit, dass Klientinnen ihre Feeds überarbeiten, Triggerquellen entfolgen, Warnsignale erkennen und lernen, das Scrollen zu stoppen, sobald ihr Nervensystem überfordert reagiert», erklärt sie. «Das Umfeld ist toxisch, und man kann nicht heilen, wenn man sich ständig Gift aussetzt.»

Wir messen uns heute nicht mehr mit Models oder Schauspielerinnen, sondern mit jedem gefilterten Bild im Netz, oft getarnt als gesunder Lebensstil unter dem Label 'Clean Eating'. Doch wie Lauren betont: «Es gibt kein ‚sauberes‘ oder ‚schmutziges‘ Essen, kein gutes und kein schlechtes. Essen ist neutral. Wir dürfen von allem etwas haben.»

Sie sieht diese Problematik besonders bei ihren «Restrictive Intake Disorder Klient:innen», oft Menschen mit anorektischen Mustern. «Essstörungen sind so komplex, weil sie so stark auf äusserem Feedback beruhen», erklärt Lauren. «Es zählt, was andere denken, und nicht, was man selbst über sich denkt. Das allein ist schon eine Form der Sucht.»

Mein Heilungsweg begann in einem Ashram in Frankreich

Mein eigener Genesungsweg begann, als ich mich in einen Ashram im Süden Frankreichs begab. Durch tägliche Meditationen begann ich mich zum ersten Mal selbst zu spüren und freundlich mit mir umzugehen. Zeit in der Natur, Traumaarbeit und ein achtsames Leben halfen mir dabei, meine Seele zu nähren, statt sie zu kasteien.

Kurz gesagt: Ich bekam eine Ahnung davon, was es heisst, sich selbst zu lieben.

Frau Achtsamkeit Natur
Achtsamkeit, Zeit in der Natur und ehrliche Innenschau haben mir den Weg aus der Krankheit geebnet. Je näher ich mir selbst gekommen bin – durch Stille, Reisen und Rückzug –, desto weniger musste ich im Aussen suchen. - unsplash

Mit der Zeit wurden Cravings weniger und hörten die Süchte auf. Nicht nur nach Essen, Drogen oder Anerkennung, sondern nach Gesehenwerden. Denn heute sehe ich mich selbst. Und ich wünsche mir, dass auch andere diesen Blick auf sich finden.

Es ist wie ein Puzzle, dessen Teile in einem selbst liegen. Man muss sie nur finden und zusammensetzen. Und am Ende, auch wenn man die Risse noch sieht, ist das Gesamtbild wunderschön.

Über die Autorin

Judith Heede ist deutsche Journalistin und Autorin mit den Schwerpunkten Mental Health und Reisen. Sie schreibt über die Wechselwirkungen von Psyche, Kultur und Heilung und veröffentlicht ihre Essays, Reportagen und Experten-Interviews auf ihrem unabhängigen Substack-Kanal «Just Judith», wo es um Trauma, Transformation und inneres Wachstum geht.

¹ Strober, M., Freeman, R. & Morrell, W. (1982). The relationship of personality and family variables to eating disorder patterns in anorexia nervosa: A controlled study. Journal of Psychiatric Research, 17(4), 503–512.

² Griffiths, S., Fuller-Tyszkiewicz, M. & Brennan, L. (2024). Stigma and shame as barriers to help-seeking among people with eating disorder symptoms: A community-based study. Journal of Eating Disorders, 12(1), 44.

³ Durkin, S. J. et al. (2025). Public perceptions of eating disorders versus depression: A comparative experimental study. University of South Australia, School of Psychology, Research Report.

Kommentare

User #1241 (nicht angemeldet)

Ich bin nach dem Lesen des Artikels noch genau so Taylor’s zu dem Thema wie vorher.

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