Claude Longchamp kritisiert Nationalrat und lobt Bundesrat
Die Frühlingssession ist zu Ende. Hauptthema war einmal mehr die Corona-Krise. Doch die Entscheide dazu fielen nüchtern aus. Politologe Longchamp erklärt warum.
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Das Wichtigste in Kürze
- Vom 1. bis 19. März tagten Stände- und Nationalrat an der Frühlingssession.
- Politologe Claude Longchamp ortet im Talk die teilweise emotionalen Entscheide ein.
- Es wird so oder so zu weiteren Konflikten kommen, da ist sich Longchamp sicher.
«Kurve gerade noch gekriegt»: Bei Politologe Claude Longchamp fällt die Bilanz der März-Session von National- und Ständerat durchzogen aus. Natürlich prägte das Coronavirus die Debatten und liess die Wogen hochgehen. Mitte-Präsident Gerhard Pfister habe wohl recht gehabt mit seiner Prognose: In der ersten Woche emotional, in der dritten kehrt die Vernunft ein. Nicht alle machten dabei gemäss Longchamp eine gute Figur.
Restaurant-Öffnungen: Viel Lärm um wenig Fassbares
Die Chropfleerete, oder wie Longchamp es ausdrückt: «Psychohygiene» fand schon am ersten Sessionstag statt. Die vom Nationalrat verabschiedete und für den Bundesrat nicht verbindliche Erklärung, die Restaurants am 22. März zu öffnen, sei der Haupt-Hintergrund gewesen.

«Danach hat der Ständerat Tag für Tag die Situation wieder zurückerobert – zu seinen Gunsten», analysiert Longchamp. In der Kleinen Kammer hielt man die Nationalratspolitik für rechtswidrig, den Taskforce- Maulkorb für peinlich und die Datumspolitik für untauglich.
Abgesehen von der massiven Aufstockung der Entschädigungen für Härtefälle habe sich der Ständerat mit seiner bundesratsnahen Politik durchgesetzt. Am Schluss sei der Eindruck entstanden, der sprichwörtliche Berg habe eine Maus geboren: «Es ist eigentlich nicht wahnsinnig viel passiert.»

SVP und FDP agieren als Sprachvermittler
Vom Getöse der Session unbeeindruckt verkündete Bundesrat Alain Berset dann sehr ruhig, dass die Lockerungen vertagt würden. Bei Zustandekommen dieses Entscheids im Bundesrat hätten zwei unterschiedliche Tendenzen eine Rollte gespielt, erläutert Longchamp.

Einerseits die Interessenspolitik von Economiesuisse, dem Gewerbeverband und Gastrosuisse. Die Wirtschaftsverbände hätten sich immer mehr gefunden und geeinigt auf eine schnelle Lockerung der Corona-Massnahmen gedrängt. Die SVP, aber auch die FDP fungierten dabei als «Übersetzer» in die Politik, so Longchamp.
Realität obsiegt über Öffnungswünsche
«Auf der anderen Seite gibt es halt die ganz andere Realität: Die ist epidemiologisch begründet.» Ausgelöst worden sei diese am Heiligabend, als das Auftauchen der neuen, aggressiveren Virusvariante dem Bundesrat die Weihnachtsfreude im Keim erstickte. Das epidemiologische Argument habe wohl den Ausschlag gegeben und sei seither nicht schwächer geworden.

«Seit einigen Tagen sagen verschiedene Kantone, von Genf bis Aargau, sie spürten die Auswirkungen der dritten Welle.» Hinzu komme nun die noch einmal aggressivere brasilianische Virus-Variante, die bereits in Mallorca angekommen sei. «Man kann sich an den Fingern abzählen: Das ist in einer Woche auch in der Schweiz.»
Terrassen-Frust: formal korrekt, psychologisch schwierig
Für den Frust der Kantone, weil insbesondere ihre Forderung nach Öffnung der Restaurant-Terrassen kein Gehör fand, hat Longchamp nur bedingt Verständnis. Die Corona-Müdigkeit sei manifest, nicht nur vor Bergrestaurants, auch direkt neben dem Bundeshaus räkelten sich Menschen auf Terrassen. «Es gibt die Tendenz: So, jetzt wollen wir endlich mal eine Änderung haben.»

Das sei zwar Teil der öffentlichen Meinung, aber nicht die ausschlaggebende. Gemäss Epidemiengesetz müsse der Bundesrat die Kantone anhören, entscheide danach aber alleine. «Formal hat der Bundesrat korrekt gehandelt, psychologisch war das in einem Land, das auf Mitsprache ausgerichtet ist, wohl ein schwieriger Entscheid.»
Die vier Phasen des einigen Bundesrats
Über die Entscheidfindung im Bundesratsgremium ist viel spekuliert worden, bis hin zu den Diktatur-Vorwürfen gegenüber Alain Berset. In der ersten Phase der Pandemie sei der Bundesrat, wie die gesamte Schweiz, sicher geeint gewesen, rekapituliert Longchamp. In der zweiten Phase, der Öffnung nach der ersten Welle, habe man deutlich den bürgerlichen Druck gespürt.

Im Oktober sei die Haltung des Bundesrats noch gewesen, jetzt gelte es, mit dem Virus leben zu lernen. Das habe man dann aber wegen des britischen Virus wieder über den Haufen werfen müssen. «In dieser Phase war der Bundesrat sicher nicht geeint.» Seit Anfang Jahr habe er aber den Eindruck, dass der Bundesrat meist gleicher Meinung sei. «Man rauft sich zwar, aber schlussendlich rauft er sich zusammen.»
«Ich bin aber sicher, dass es eine fünfte Phase geben wird, die neue Konflikte bringt.» Das liege auch in der Natur der Sache: Das Auslösen einer ausserordentlichen Lage sei ein typischer Entscheid des Exekutiv-Staats. «Das Beenden einer besonderen Lage ist keine Frage des Exekutiv-Staats, sondern ein sozialer Prozess. Das macht es schwierig und ich bin sicher, das wird uns in den nächsten Wochen begleiten.»