Für welche Gruppen macht ein zweiter Corona-Booster Sinn? Bundesgesundheitsminister Lauterbach meint: ab 60 Jahren. Was Forscher und die Ständige Impfkommission von dem Vorschlag halten.
Seit Mitte Februar rät die Stiko Menschen ab 70, Bewohnern von Pflegeeinrichtungen sowie Menschen mit Immunschwäche ab fünf Jahren zu einer zweiten Booster-Impfung.
Seit Mitte Februar rät die Stiko Menschen ab 70, Bewohnern von Pflegeeinrichtungen sowie Menschen mit Immunschwäche ab fünf Jahren zu einer zweiten Booster-Impfung. - Daniel Bockwoldt/dpa/Symbolbild

Eine vierte Corona-Impfung schon für ab 60-Jährige:Dafür wirbt Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) seiteinigen Tagen und beruft sich auf neue israelische Daten. Auch aufEU-Ebene dringt er dazu auf eine entsprechende gemeinsame Linie. Diein Deutschland für das Thema zuständige Ständige Impfkommission(Stiko) ist bisher zurückhaltend. Dazu Fragen und Antworten.Wie sehen die Empfehlungen zur Viertimpfung bisher hierzulande aus?

Seit Mitte Februar rät die Stiko angesichts der Omikron-Wellebestimmten Gruppen dazu: Menschen ab 70, Bewohnern vonPflegeeinrichtungen sowie Menschen mit Immunschwäche ab fünf Jahren.Wegen der Ausbruchsgefahr sind auch Beschäftigte von Einrichtungenwie Kliniken und Pflegeheimen einbezogen. Bei gesundheitlicherGefährdung rät die Stiko, die zweite Auffrischung frühestens dreiMonate nach der ersten vorzunehmen. Bei Gesundheits- undPflegepersonal soll es mindestens ein halbes Jahr Abstand sein.Wie viele Menschen sind der Empfehlung bisher nachgekommen?

Der Verlauf könne nicht zufriedenstellen, sagte Lauterbach kürzlich.Allein von den 13,5 Millionen Menschen über 70 Jahren sowie von denMenschen mit Immundefekt seien bisher weniger als zehn Prozent einviertes Mal geimpft. Zu den denkbaren Gründen zählt, dass ein anOmikron angepasstes Vakzin immer noch fehlt. Genug von bisherigenImpfstoffen scheint vorhanden: Lauterbach sagte kürzlich, wegenstockender Abnahme durch einkommensschwächere Länder sei zubefürchten, dass in Europa Impfstoff vernichtet werden muss.Welche Erfahrungen hat Israel mit dem zweiten Booster gemacht?

Daten zu mehr als 560.000 Menschen zwischen 60 und 100 Jahren, dieteils nur dreimal, teils bereits ein viertes Mal geimpft wurden, sindvor einigen Tagen als Preprint erschienen - also noch ohne die beiStudien übliche externe Begutachtung. Ergebnis: Die Sterblichkeitdurch Covid-19 sei in der vierfach geimpften Gruppe um 78 Prozentverringert gewesen, verglichen mit der Gruppe der nur Geboosterten.Darauf berief sich Lauterbach.Was steckt dahinter?

Ein genauerer Blick in die Daten zeigt: Die Unterschiede zwischen denverglichenen zwei Gruppen aus drei- beziehungsweise vierfachGeimpften sind minimal, wie der Vizepräsident der DeutschenGesellschaft für Immunologie, Reinhold Förster, sagte: «Beide Gruppenhaben bei Omikron ein sehr geringes Sterberisiko durch Covid-19.» DieAngaben zur verringerten Sterblichkeit basierten daher auf relativkleinen absoluten Zahlen. Bei den 60- bis 69-Jährigen zum Beispielstarben laut Preprint fünf der rund 111.800 vierfach Geimpften und 32der rund 123.800 dreifach Geimpften.Welche Tücken haben die israelischen Daten noch?

«Es ist ja die Frage, inwieweit die beiden Gruppen vergleichbar sind.Manche dreifach geimpfte Vorerkrankte dürften sich nicht zurViertimpfung aufgerafft haben, was die Unterschiede bei derSterblichkeit zum Teil erklärten könnte», sagte Förster. Darüberhinaus weist das Autorenteam selbst darauf hin, dass sie nur auf einerelativ kurze Zeitspanne von 40 Tagen blicken. Bei der erfasstenTodesursache Covid-19 in Krankenhäusern könnten zudem auch Fälleenthalten sei, in denen ein positiver Test ein Nebenbefund ist.Wie sieht die Stiko den Lauterbach-Vorstoss?

Stiko-Chef Thomas Mertens sagte, dass das Gremium ohnehin ständigneue Daten sichte und die Notwendigkeit von Aktualisierungen prüfe.Die Frage der vierten Dosis lasse sich nicht ausschliesslich am Alterder Impflinge festmachen. Vielmehr spielten auch Vorerkrankungen undÜberlegungen zum Impfschutz auf längere Sicht eine Rolle. «Anhandbisher verfügbarer Daten kann man aber sagen, dass der zweite Boosteroffenbar nur bedingt vor Infektion schützt, aber schwere Verläufe inRisikogruppen reduzieren kann.»

Die aktuelle 70-Jahre-Schwelle sei auch durch eine Analyse deutscherDaten zustande gekommen: mit dem Ergebnis, dass das Gros der schwerenErkrankungen und Todesfälle eben in diesem Alter auftrete. Mertenssprach darüber hinaus von zu benennenden Prioritäten: «EinHauptproblem bei 60- bis 69-Jährigen auf Intensivstationen besteht imAugenblick in Patienten ohne erste Booster-Impfung, noch schlechteremoder völlig fehlendem Impfschutz.»Wie bewerten andere Experten die bisherigen Erkenntnisse?

Mehrere angefragte Fachleute reagierten zurückhaltend und werten diebisherige Datenlage als dünn. «Eigentlich müsste man abwarten, obsich die Beobachtung auch in anderen Ländern bestätigt», sagte dieInfektiologin Jana Schroeder. «Auch Daten zur Sicherheit wurden inder israelischen Studie nicht erhoben. Warum sollten wir bei Seniorenweniger vorsichtig sein als bei Kindern? Schliesslich ist dieCorona-Impfung für Fünf- bis Elfjährige in Deutschland immer nochnicht generell empfohlen, trotz mehr als acht Millionen geimpfterKinder in den USA.»

Bedenken gibt es auch, da völlig unklar ist, welche Virusvarianten ineinigen Monaten vorherrschen, welche Impfstoffe es dann gibt und wasdas wiederum für die Impfempfehlungen zum Winter hin bedeutet.

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