Coronavirus, Eigenverantwortung und keine Maskenpflicht. Im Nau.ch-Gespräch liefert Tobias Lehmann (30) einen Einblick in das umstrittene Schweden-Modell.
Tobias Lehmann Stockholm coronavirus
Tobias Lehmann doktoriert zurzeit in Stockholm, Schweden. - zVg/Keystone
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Das Wichtigste in Kürze

  • Der Berner Tobias Lehmann lebt seit Anfang September in Schweden.
  • Im Gespräch mit Nau.ch gibt er einen Einblick in das umstrittene Schweden-Modell.
  • Er zeigt sich überrascht von der Gelassenheit, mit der die Schweden mit dem Virus umgehen.

«Als ich nach Stockholm flog, dachte man, Schweden habe das Coronavirus nicht im Griff. Als ich ankam, war ich aber überrascht. Das Schweden-Modell funktioniert eben doch.»

Der Berner Tobias Lehmann ist Doktorand in Volkswirtschaft an der Universität Lausanne. Seit anfangs September ist er für seine Forschungsarbeit in Stockholm unterwegs – im Corona-Ausnahmeland Schweden.

So hat der 30-Jährige den Anfang der Pandemie in der Schweiz und nun den zweiten Infektionsanstieg in Schweden miterlebt.

Tobias Lehmann
Tobias Lehmann lebt seit Anfangs September in Stockholm, Schweden. - zVg

Vor seiner Reise hatte Tobias Lehmann keine hohen Erwartungen an die Corona-Massnahmen in Schweden, sagt er heute. Viele Schweizer, so auch er, waren damals der Meinung, das Schweden-Modell – ohne Maskenpflicht – funktioniere nicht. Doch bei seiner Ankunft in Stockholm wurde der Doktorand angenehm überrascht.

Denn wie sich herausstellte, schauen die Nordländer gut zueinander – wahrscheinlich sogar besser als wir Schweizer, glaubt Tobias Lehmann. «Im Flughafen tragen beispielsweise alle Masken, obschon es nicht Pflicht ist.»

Eigenverantwortung dank Flexibilität

Das Prinzip der Eigenverantwortung funktioniert gemäss dem Doktoranden allgemein ziemlich gut. Das sei aber auch einem flexiblen System zu verdanken. Studenten können beispielsweise selbst entscheiden, ob sie in die Uni gehen oder den Unterricht von Zuhause aus besuchen.

Dieses Beispiel würde die generelle Situation in Schweden widerspiegeln. «Jede Person kann für sich entscheiden, welches Risiko sie auf sich nimmt.» Dadurch werde auch die Personenzahl im öffentlichen Verkehr und in öffentlichen Räumen automatisch reduziert.

Coronavirus: Schweden fordern schärfere Massnahmen

Trotzdem gibt es Forderungen vonseiten der Bevölkerung, erzählt der Berner. Diese bewegen sich jedoch in eine andere Richtung als in der Schweiz: Die Schweden wollen schärfere Massnahmen gegen das Coronavirus. Gemäss einem Arbeitskollegen von Lehmann sei das aber bereits seit Beginn der Pandemie der Fall.

Proteste gegen die Corona-Massnahmen wie in der Schweiz gibt es hingegen kaum. Wo wenig Massnahmen sind, gibt es wenig zu meckern, schlussfolgert der Arbeitskollege.

Alain berset BAG corona
Bundesrat Alain Berset bei einer Pressekonferenz. In der Schweiz informiert das BAG wöchentlich über die neuen Massnahmen gegen das Coronavirus. - Keystone

Wie die öffentliche Meinung zum Coronavirus genau aussieht, ist trotzdem unklar. Tobias Lehmann hat schon die unterschiedlichsten Aussagen zu hören bekommen. «Einige Schweden sind stolz auf ihr Modell», erklärt er. Dabei fallen auch abwertende Bemerkungen gegenüber der Schweiz.

«Gerade als der Bundesrat Grossanlässe wieder erlaubt hat, waren die Schweden sehr erstaunt. Hier sind noch immer nur 50 Personen zugelassen», sagt Lehmann.

Falsche Vorstellung des Schweden-Modells

Er erzählt weiter: «Ich glaube, dass wir Schweizer ein falsches Bild des schwedischen Modells haben. Eine Zeit lang gab es hier mehr Verbote als in der Schweiz. Der einzige Unterschied ist die Maskenpflicht.»

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Menschen sitzen im Stadtzentrum von Stockholm. Kaum eine Strategie hat in der Corona-Krise so viele Schlagzeilen gemacht wie der schwedische Sonderweg. - dpa

Dabei muss der Berner aber zugeben, dass die Masken für eine gewisse Sicherheit sorgen. Es sei komisch in Schweden ohne Maske unterwegs zu sein. «Aber dieses Gefühl der Sicherheit kann natürlich auch trügerisch sein.»

Schweden sind gelassener als Schweizer

Neue Einschränkungen im Kampf gegen das Coronavirus sind trotz den steigenden Fallzahlen noch kein Thema, zumindest nicht öffentlich. Die schwedische Bevölkerung sei jedoch weniger gut informiert als die schweizerische. Dafür ist die Situation auch sehr ruhig – gelassener als in der Schweiz. «Im Frühling waren die Schweden im Homeoffice, vielleicht kommt diese Empfehlung wieder.»

Ansonsten setzt die schwedische Regierung auf Kontinuität. «Es gibt seit Beginn der Pandemie die bestehenden Massnahmen. An diese hat sich die Bevölkerung gewöhnt», erzählt Lehmann. So ist auch das Gefühl der Eigenverantwortung bereits gefestigt.

Schweden-Modell hat auch Schattenseite

Obschon sich die Skandinavier gelassen zeigen, sprechen die Zahlen eine andere Sprache. Während das Zehn-Millionen-Einwohner-Land weniger Infektionen mit dem Coronavirus verzeichnet als die Schweiz, ist die Todeszahl fast dreimal so hoch.

Von den knapp 115'800 Infizierten verstarben laut «worldometers» bisher fast 6000 Patienten. In der Schweiz liegt die Todeszahl bei 127'000 Ansteckungen auf rund 1900.

Ausserdem verzeichnete Schweden diese Woche mit rund 2800 die höchste Zahl an Neuinfizierten seit Pandemiebeginn.

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