Mehrere europäische Staaten wollen Palästina trotz andauerndem Krieg gegen Israel anerkennen – die Netanjahu-Regierung ist empört. Experten ordnen ein.
Palästina USA
Im Westen gibt es wie hier in den USA zuletzt immer wieder Pro-Palästina-Proteste. Auch die Politik gewisser Länder wird aktiv und will das Gebiet zum Staat ernennen. - keystone

Das Wichtigste in Kürze

  • Norwegen, Spanien und Irland wollen den Staat Palästina bald anerkennen.
  • Experten erklären, was hinter dem Sinneswandel dieser westlichen Staaten steckt.
  • Israel und seine Verbündeten wittern eine Erpressung der demokratischen Welt – stimmt das?
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Es ist aktuell eine der meist diskutierten Fragen der Weltpolitik: Sollte man Palästina als eigenen Staat anerkennen oder besser nicht?

Aktuell haben 143 von 193 UN-Staaten das Gebiet im Nahen Osten anerkannt. Auffällig ist, dass insbesondere die meisten westeuropäischen Länder bisher darauf verzichteten. Auch die USA, Kanada, Australien oder Neuseeland stellen sich beispielsweise dagegen.

Doch das könnte sich bald ändern. Norwegen, Spanien oder Irland wollen Palästina bald anerkennen. Auch in anderen Ländern – unter anderem in der Schweiz – werden entsprechende Forderungen laut. Woher kommt jetzt also dieser Sinneswandel?

Palästina-Anerkennung ist eines der wenigen Druckmittel

Bernhard Stahl, Professor für Internationale Politik an der Universität Passau, erklärt gegenüber Nau.ch: «In vielen europäischen Ländern herrscht Verzweiflung.»

Der Einfluss Europas auf den Nahost-Konflikt sei relativ gering. Die Anerkennung Palästinas ist deshalb eine der wenigen Möglichkeiten, die Staaten mit Kritik an der Netanjahu-Regierung haben: «Man will signalisieren, dass man mit dem Kriegsverlauf und mit Israels Politik nicht einverstanden ist», so Stahl.

Für Andreas Böhm, Nahost-Experte an der Universität St. Gallen, ist klar: «Der Anlass ist die humanitäre Katastrophe im Gazastreifen.» Dazu komme die Einsicht, dass es nur mit einem palästinensischen Staat in der Region Frieden geben könne.

Spanien Palästina
Spaniens Regierung um Premier Pedro Sanchez will Palästina anerkennen.
Norwegen Palästina
Norwegens Premierminister Jonas Gahr Store tut es ihm gleich.
Irland Palästina
Der irische Aussenminister Micheál Martin hat den gleichen Schritt vonseiten Dublins angekündigt.
Benjamin Netanjahu
Benjamin Netanjahu sieht es naturgemäss etwas anders.
Annalena Baerbock
Auch andere Staaten äussern sich kritisch: Beispielsweise Deutschland mit Aussenministerin Annalena Baerbock.

Interessant ist, dass laut Stahl lange eine «grosse Einmütigkeit» geherrscht habe, was den Nahen Osten angeht. Die aktuellen Ereignisse – die Hamas-Anschläge sowie die Reaktion Israels – hätten den Westen aber etwas geteilt. «Einige stellen sich klar auf die Seite Israels, andere haben sich nun dafür entschieden, den Druck auf Israel zu erhöhen.»

Israel reagierte empört auf die angekündigten Anerkennungen. So würde man die Hamas für ihre Terroranschläge gegen den jüdischen Staat belohnen, sagt Premierminister Benjamin Netanjahu.

Auch andere Staaten sind skeptisch. Kritische Worte gab es unter anderem aus den USA und aus Deutschland. Ein Argument, das von Israel und seinen Unterstützern immer wieder ins Feld geführt wird: Man verteidigt im Nahen Osten auch die freiheitlichen und demokratischen Werte.

Israel gilt im Nahen Osten laut verschiedenen Rankings schliesslich als einzige Demokratie. Auch wenn es um die Freiheiten im Land geht, schneidet der jüdische Staat in der Region am besten ab.

Wie überzeugend ist das Demokratie-Argument?

Die Unterscheidung zwischen Demokratien und Autokratien ist laut den Experten jedoch nicht haltbar. Böhm betont, dass ohnehin die meisten Länder eine Zweistaatenlösung wollen. Wenn der Staat irgendwann einmal errichtet werden würde, würden die, die ihn bisher nicht anerkannt haben, das ebenfalls tun.

Auch Stahl sieht den Gegensatz eher nicht zwischen den politischen Systemen, sondern, wenn überhaupt, zwischen Westen und globalem Süden. Ein Grund dafür sei der Holocaust, der vor allem als europäisches Ereignis wahrgenommen werde. «Westliche Staaten fühlen sich Israel gegenüber deshalb eher verpflichtet.»

Sollte die Schweiz Palästina als Staat anerkennen?

Laut Stahl bringt vor allem die Netanjahu-Regierung dieses Demokratie-Argument immer wieder hervor. «Die Implikation daraus ist, dass sich Demokratien immer demokratiewürdig verhalten.» Die Geschichte habe aber gezeigt, beispielsweise im Irak-Krieg, dass das nicht immer so sein muss, sagt Stahl. Entsprechend sei dieses «Schutzargument» nicht sehr überzeugend.

«Hamas ist gar nicht in der Lage zu erpressen»

Auch von einer Erpressung durch die Hamas würde Stahl nicht sprechen. «Die Hamas ist gar nicht in der Lage zu erpressen, dafür ist Israel zu stark.» Es gehe eher darum, Israel mit den «furchtbaren Anschlägen» unter Druck zu setzen, damit sich dieses dann selbst delegitimiert.

Böhm sieht es ähnlich. Die Argumentation der Erpressung sei «Unfug und reine Propaganda». Israel würde radikale und extremistische Akteure wie die Hamas durch das Verhindern eines Palästina-Staates eher stärken. Mit einer entsprechenden Gründung könnte man diesen Gruppierungen den Wind aus den Segeln nehmen.

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