Marko Kovic: Entmenschlichung in Gaza – wenn über Leid gelacht wird

Marko Kovic
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Flawil,

Die humanitäre Lage in Gaza hat sich in den vergangenen Monaten stark verschlechtert. Kolumnist Marko Kovic schreibt darüber, wie Entmenschlichung funktioniert.

Marko Kovic
Marko Kovic schreibt regelmässig Kolumnen auf Nau.ch. - zVg

Das Wichtigste in Kürze

  • Der bekannte Sozialwissenschaftler Marko Kovic schreibt regelmässig Kolumnen auf Nau.ch.
  • Heute schreibt Kovic über das Leid im Gaza-Konflikt.

Die humanitäre Lage in Gaza hat sich in den vergangenen Monaten stark verschlechtert.

Nachdem Israel und die USA das UNO-Hilfswerk UNRWA im März verboten haben und mit dem Ersatz-Hilfswerk «Gaza Humanitarian Foundation» die Anzahl der Abgabestellen für Essen von rund 400 auf nur 4 reduziert haben, herrschen in Gaza akute Ernährungsunsicherheit und Mangelernährung.

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Kolumnist Marko Kovic erklärt, wie Entmenschlichung funktioniert. - Marko Kovic

Die normale Reaktion auf eine Zivilbevölkerung, die in einem Krieg zu wenig zu essen hat, ist Empathie.

Egal, wo man bezüglich Palästina und Israel ideologisch steht: Die einzig richtige moralische Einordnung ist, zu wollen, dass das Leid der betroffenen Menschen endet.

Aber nicht alle sehen das so. Zahlreiche Influencer auf Social Media leugnen die prekäre Situation in Gaza, mit reichlich Spott und Häme.

Influencerin macht sich über Hungernde lustig

Es gebe gar keine Nahrungsknappheit und keine Mangelernährung. Das sei alles Propaganda. Die Videos und Fotos der Menschen, die in Gaza unter beelendenden Umständen für Nahrung anstehen, seien inszeniert oder KI-generierte Fakes.

In einem viralen Post beispielsweise macht sich eine Influencerin über Menschen lustig, die an einer Abgabestelle dicht zusammengedrängt auf Nahrung warten.

Die Frau auf dem Foto habe drei Arme. Das hat sie nicht. Das Foto der Agentur «Getty Images» ist echt; der vermeintliche dritte Arm gehört der Frau, die neben ihr steht.

Gaza-Bild
Dieses Agentur-Bild ging viral. Es ist echt. - Screenshot Social Media

Andere Influencer stören sich an einem Foto des abgemagerten Kleinkindes Muhammad al-Matouq.

Er sei gar nicht Opfer von Mangelernährung – er habe in Wahrheit eine Erbkrankheit. Sein Bruder ist nicht abgemagert. Es gebe darum keine Nahrungsknappheit in Gaza.

Muhammad al-Matouq
Das abgemagerte Kleinkinde Muhammad al-Matouq. - Social Media

Ja, al-Matouq hat eine schwere Erbkrankheit: Zerebralparese.

Aber, und das ist der springende Punkt: Kinder mit Zerebralparese haben ein stark erhöhtes Risiko für Mangelernährung. Sie können oft grundsätzlich schlecht essen, vertragen nur bestimmte Nahrungsmittel, sind auf Nahrungspräparate und auf medizinisch fachgerechte Zufuhr von Nahrung angewiesen.

Es ist kein Widerspruch, dass die Hungersnot in Gaza Kinder wie al-Matouq am härtesten trifft. Es ist genau das, was zu erwarten ist.

Leidenden Menschen wird Leid abgesprochen

Das Risiko ist bei Risikogruppen eben am höchsten. Das ist derart offensichtlich, dass es skurril ist, das überhaupt betonen zu müssen.

Die hämischen Kommentare zur Situation in Gaza sind keine gut gemeinten kritischen Einwände.

Es ist irrationaler, ideologiegetriebener Eifer, der im Kern Eines macht: Menschen, die leiden, ihr Leid absprechen. Das ist Entmenschlichung.

Hast du für Gaza gespendet?

Wie Entmenschlichung funktioniert

Die meisten Leute haben einen einigermassen rationalen moralischen Kompass.

Wir wissen, dass alle Menschen grundsätzlich gleich sind. Wenn ich stürze und mir das Bein breche, verstehe ich rein intellektuell, dass das genauso schlimm ist, wie wenn eine Person irgendwo in China stürzt und sich das Bein bricht.

Menschen sind empathiefähig und verstehen, dass andere Menschen den gleichen moralischen Status wie sie selbst haben.

Geborgenheit in Gruppen und Abgrenzung

Das ist aber nur eine Seite der Medaille. Menschen haben gleichzeitig das Bedürfnis, Geborgenheit in Gruppen zu suchen. Und sich gegen andere Gruppen abzugrenzen.

Mitglieder der eigenen «Ingroup», des eigenen Teams, erachten wir moralisch wichtiger und besser als Mitglieder der fremden «Outgroup». Dieses Denkschema ist der «Intergroup Bias».

Der Intergroup Bias kommt auch beim Gaza-Krieg zur Geltung. Krieg ist leider immer auch «Teamsport».

Wenn man sich ideologisch stark auf die Seite Israels stellt, ist man psychologisch dazu motiviert, Israels Handlungen im Krieg zu befürworten. Auch dann, wenn sie die eigenen Moralvorstellungen eigentlich verletzen.

Wir lockern unsere moralischen Standards

Im Konflikt zwischen moralischen Standards und den Handlungen des eigenen Teams kommen Erstere oft unter die Räder.

Der zentrale Mechanismus dabei ist «moralische Entkoppelung». Das bedeutet: Wenn wir sehen, dass unser Team etwas macht, womit wir eigentlich nicht einverstanden sind, lockern wir unsere moralischen Standards, um zu rechtfertigen, warum das, was unser Team macht, doch moralisch richtig ist.

Gaza
Ein Mann sitzt in einem Sessel vor einem zerstörten Gebäude in Gaza-Stadt. - dpa

Moralische Entkoppelung kann, wie jetzt in Gaza, zu Entmenschlichung führen, indem man Menschen elementare moralische Eigenschaften abspricht.

Zum Beispiel und ganz zentral: Wenn man ihnen abspricht, dass sie in einer Situation, in der ihnen Leid widerfährt, wirklich leiden.

Entmenschlichung bedeutet nicht zwingend, dass man explizit glaubt und sagt, dass jemand kein vollwertiger Mensch sei. Das gibt es auch und viel zu oft. Beispielsweise als Rassismus oder Antisemitismus.

Ein irrationaler psychologischer Rechtfertigungsmechanismus

Wenn beispielsweise Hamas-Angehörige den Holocaust leugnen, ist das explizit entmenschlichend.

Der Mechanismus von Entmenschlichung kann aber auch subtil sein: Weil man das eigene Team und dessen Verhalten unterstützen will, sucht man nach Dingen, die mit dem anderen Team vermeintlich nicht stimmen. Ein irrationaler psychologischer Rechtfertigungsmechanismus.

Wie es in den Köpfen der Leute, die das Leid der Palästinenser in Gaza zynisch leugnen, wirklich aussieht, weiss ich letztlich nicht.

Aber ich glaube, dass sie eigentlich verstehen, dass das, was sie sehen, nicht in Ordnung ist – und genau darum auf in der Konsequenz brutal entmenschlichende Art versuchen, das Leid der Opfer zu leugnen.

Anders lässt sich die grosse kognitive Dissonanz, der Konflikt zwischen ihren Moralvorstellungen und dem Verhalten ihres Teams, nicht tilgen.

Wer am lautesten schreit, gewinnt

Die entmenschlichende Rhetorik zum Gazakrieg gedeiht besonders auf Social Media. Das ist kein Zufall.

Auf Social Media ist fast alles nur noch Teamsport. Die Logik der brutalisierten Aufmerksamkeitsökonomie hat zur Folge, dass online nur Gehör findet, wer besonders krasse Aussagen macht. Für rationale Analysen ist kein Platz. Es gibt nur noch Schwarz oder Weiss.

Keine Sympathien für die Hamas

Nicht zuletzt die Kommentare unter diesem Text dürften das demonstrieren. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit werde ich in den Kommentaren als Judenhasser, Hamas-Propagandist und dergleichen beschimpft. Das bin ich natürlich nicht.

Hamas ist eine antisemitische Terrororganisation, für die ich keinerlei Sympathien habe. Meine Position ist einfach ein Minimum an analytischer und moralischer Konsistenz.

Das Leid, das Hamas am 7. Oktober 2023 verursacht hat, ist inakzeptabel. Das noch grössere Leid, das Israel als Reaktion auf den 7. Oktober bis heute verursacht, ist inakzeptabel.

Das einzige Team, das mich interessiert, ist Leidreduktion. Ist Menschlichkeit.

In Zeiten grassierender Entmenschlichung eine unerhörte Haltung.

Zum Autor: Marko Kovic ist Gesellschaftskritiker. Er interessiert sich für gesellschaftlichen Wandel und die Frage, ob wir noch zu retten sind. Er lebt in Uzwil SG.

Kommentare

User #5831 (nicht angemeldet)

Selbst verursachtes Leid. Darum kein Mitleid

User #4103 (nicht angemeldet)

Das Ego ist eben ein Träumer. Sieht ein Konzept das nach seiner Meinung richtig ist. Böses bringt Böses hervor. Ein geistiges Konzept. Das Gute zu stehen ist in der heutigen Zeit anstrengend, Folter in Russland, Gefangen werden durch russische Ärzte misshandelt, Zivilbevölkerung wird von Russland bombardiert nur weil ein Mann in seiner Vorstellung gekränkt wurde. Ein Israel das im Grunde den Nachbar nicht akzeptiert, eine Hamas die Israel nicht akzeptiert. Eine Influenzerinn die geistig in der Dunkelheit lebt und ihr Schicksal, ihr Gefängnis selbst erschaffen hat. Das leiden der Menschen war auch während anderen Kriege, welche vergangenen sind, nicht anders. Aber es gibt eine ausgleichende Gerechtigkeit.

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