Wissenschaftler verabschieden sich von der Vorstellung, die Weltbevölkerung könnte eine Herdenimmunität gegen das Coronavirus aufbauen. Fünf Hauptgründe dafür.
Coronavirus Impstoff Sputnik V
Fläschchen mit dem russischen Impfstoff Sputnik V stehen auf einem Tisch. - Tibor Rosta/MTI/AP/dpa
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Das Wichtigste in Kürze

  • Es gibt noch offene Fragen bezüglich Immunität und Übertragbarkeit bei geimpften Menschen.
  • Die langsame und ungleiche Verteilung der Impfungen begünstigt Entstehung von Varianten.
  • Bis alle Menschen geimpft sind, ist die Aufrechterhaltung der Corona-Massnahmen sinnvoll.

Der Weg aus der Corona-Pandemie führt sehr wahrscheinlich nicht über die Herdenimmunität. Verschiedene Experten legen in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift «Nature» fünf Gründe dar, weshalb diese beim Coronavirus wohl nie erreicht werde. ETH-Immunologieprofessor und Taskforce-Mitglied Manfred Kopf ordnet sie für Nau.ch ein und erklärt, was dies für die Schweiz bedeutet.

Offene Fragen zu den Impfstoffen gegen Coronavirus

Eine Herdenimmunität entsteht dadurch, dass dem Coronavirus nicht genügend Wirte für die Verbreitung zur Verfügung stehen. Dadurch wird die Übertragung verlangsamt, schliesslich gar gestoppt. Ob geimpfte Menschen den Erreger weitergeben können, ist derzeit nicht definitiv geklärt.

Manfred Kopf ist diesbezüglich zuversichtlich. Er gehe davon aus, dass zumindest die Zeitspanne einer möglichen Virusübertragung bei Geimpften verkürzt ist.

«Die Impfung verhindert, dass das Virus in die Zellen eindringt, dort repliziert und dann wieder viele neue Zellen infiziert. Ist dieser Kreislauf durchbrochen, wird auch die Übertragung reduziert. Tatsächlich gibt es bereits vielversprechende Hinweise, dass die Gefahr der Ansteckung durch Geimpfte stark reduziert ist.»

Coronavirus
Manfred Kopf, Immunologieprofessor an der ETH Zürich und Mitglied der Task Force (Subgruppe Immunologie). - zVg

Ebenfalls unklar ist derzeit, wie lange eine Immunität, nach einer Impfung oder überstandenen Infektion, anhält. Der aktuelle Wissensstand über Coronaviren und insbesondere auch über Sars-CoV-2 deutet darauf hin, dass die Immunität nicht sehr lange anhält.

Kopf sieht darin kein Problem. «In dem Fall braucht man Nachimpfungen, wie das bei den meisten Impfstoffen der Fall ist. Ob diese bei Corona in ein- oder mehrjährigen Abständen erfolgen müssen, ist bislang natürlich spekulativ.»

Impfstoff ist ungleichmässig verteilt

Da nicht genügend Impfstoff für die ganze Weltbevölkerung vorhanden ist, wird selektiv gespritzt. Dabei gibt es gewaltige Unterschiede bei der Verteilung der Impfstoffe.

Die westlichen Länder haben sich bereits Millionen von Impfdosen gesichert und der Bevölkerung verabreicht. In Afrika und weiten Teilen Asiens laufen die Impfkampagnen nur schleppend voran.

Coronavirus
Die Verteilung der Impfstoffe gegen das Coronavirus nach Kontinenten Ende März 2021. - Ourworldindata.org

Die nicht-geimpften Bevölkerungsgruppen bilden ein Reservoir für das Coronavirus. Dort könnten neue Mutationen entstehen, die unter Umständen gegen Medikamente und Impfstoffe resistent sein können.

Der Schlüssel liege deshalb bei einer hohen Durchimpfung der gesamten Weltbevölkerung, so Kopf. Es gebe nur einen Weg, um diese schneller voranzutreiben: Die Impfstoff-Produktion müsse erhöht werden. Was allerdings nicht leicht sei, da bereits unter Hochdruck gearbeitet werde.

Langsame Durchimpfung begünstigt Entstehung von resistenten Mutationen

Immer wieder tauchen neue Mutationen des Coronavirus auf – derzeit beschäftigen uns besonders diejenigen aus Grossbritannien, Südafrika und Brasilien. Die Varianten des Virus haben einen grossen Einfluss auf eine mögliche Herdenimmunität. Dies zeigt das Beispiel aus der brasilianischen Stadt Manaus im Frühjahr 2021.

Coronavirus Manaus
Menschen in Manaus werden auf das Coronavirus getestet. - Keystone

Eine langsame Durchimpfung der Weltbevölkerung könnte die Entstehung von impfstoffresistenten Varianten begünstigen. Je mehr Menschen geimpft sind, desto schwieriger ist es für das Coronavirus, sich zu verbreiten. Impfstoffresistente Mutationen haben dann zunehmend einen evolutionären Vorteil. Diese verdrängen mit der Zeit die impfstoffanfälligen Varianten – in der geimpften und ungeimpften Bevölkerung.

Wie die Impfkampagne in der Schweiz verlaufe, sei diesbezüglich hingegen relativ unbedeutend. Auch hier verweist Kopf darauf, dass die ganze Weltbevölkerung so schnell wie möglich Zugang zu Impfstoffen erhalten müsse.

Impfstoffe verändern das menschliche Verhalten

Die Verabreichung der Impfstoffe führt dazu, dass Menschen sich weniger an die Massnahmen halten. Einerseits erachten dies die Geimpften selbst häufig als weniger nötig, da sie sich geschützt fühlen. Andererseits lockern die Regierungen vielerorts mit dem Fortschreiten der Impfkampagnen die Corona-Massnahmen. Doch gerade die Kombination der Schutzmassnahmen mit dem Fortschreiten der Verimpfung würde die Ausbreitung des Coronavirus rasch eindämmen.

Texas Coronavirus
Menschen schauen sich am Outlaws & Legends Music Festival in Abilene, Texas, am 19. März 2021 ein Konzert an. - Keystone

Taskforce-Mitglied Kopf empfiehlt daher, Schutzmassnahmen wie Maske tragen und Kontakte reduzieren so lange aufrechtzuerhalten, bis alle Impfwilligen ein Impfangebot haben.

Derzeit sind vor allem ältere Menschen geimpft worden. Von diesen könne man erwarten, dass die ihnen entgegengebrachte Solidarität zurückkomme. Auch wenn für sie die Gefahr nun abgenommen habe, könnten sie nun etwas zum Schutz aller beitragen. Indem sie etwa weiterhin Schutzmasken tragen.

«Es gibt keinen Grund, Kinder nicht zu impfen»

Zu Beginn der Pandemie wurde anhand der Ursprungsvariante eine Immunität von 60 Prozent errechnet, um die Ausbreitung zu stoppen. Seit dem Ausbruch der Virusmutation im brasilianischen Manaus sei klar, dass die Schwelle zur Herdenimmunität bei rund 75 Prozent liege.

In der Schweiz sind rund 20 Prozent der Bevölkerung nicht älter als 20 Jahre. Ohne Einbezug der Kinder müssten sich also praktisch alle Erwachsenen impfen lassen.

Wollen Sie sich gegen das Coronavirus impfen lassen?

Die höchsten Inzidenzen verzeichnet gemäss Kopf momentan ausgerechnet die Altersgruppe der 10- bis 19-Jährigen. Deshalb gebe es «keinen Grund, Kinder nicht impfen zu lassen – sobald ein Impfstoff ausreichend gut getestet und zugelassen sei».

Experte blickt dennoch optimistisch in die Zukunft

Auch wenn die weltweite Herdenimmunität gegen das Coronavirus ein schwer zu erfüllender Wunsch ist, zeigt sich der Immunologieprofessor optimistisch. «Auch wenn Sars-CoV-2 nicht ganz verschwindet, eine Pandemie wie die jetzige wird es sehr wahrscheinlich nicht mehr geben.

Die Herstellung von Impfstoffen gegen CoV-2-Varianten wird viel schneller sein. Und diese Varianten treffen auf eine Gesellschaft, die eine Grundimmunität hat. Anders als das Ende 2019, Anfang 2020 der Fall war.»

Das Infektionsgeschehen werde zu einem epidemischen Ausmass zurückgehen. Dabei komme es immer wieder zu lokalen Ausbrüchen, ohne dass es sich um den ganzen Globus verteile.

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