Der Lyriker und Essayist gilt als einer der wichtigsten Vertreter der polnischen Gegenwartsliteratur. Mit seinen Versen tröstete Adam Zagajewski die Menschen in New York nach den Terroranschlägen vom 11. September. Nun wird er 75 - und verrät, welches Wort er nicht mag.
Der Dichter und die verstümmelte Welt: Adam Zagajewski wird 75. Foto: Marijan Murat/dpa
Der Dichter und die verstümmelte Welt: Adam Zagajewski wird 75. Foto: Marijan Murat/dpa - dpa-infocom GmbH
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Das Wichtigste in Kürze

  • Nach den Anschlägen auf das World Trade Center am 11.

September 2001 erschien das Magazin «New Yorker» mit schwarzem Titelblatt. Die Trauer-Ausgabe enthielt Adam Zagajewskis Gedicht «Versuch's die verstümmelte Welt zu besingen».

Die Verse des polnischen Dichters waren zwar bereits anderthalb Jahre zuvor entstanden. Und doch trafen sie den Nerv einer verwundeten Stadt. «Du hast die Henker gehört, die fröhlich sangen» hiess es darin, und später am Ende: «Besinge die verstümmelte Welt/ und die graue Feder, die die Drossel verlor,/und das sanfte Licht, das umherschweift und verschwindet/und wiederkehrt.» Zagajewski war zu diesem Zeitpunkt bereits mehrfach ausgezeichnet und galt als einer der wichtigsten Vertreter der polnischen Gegenwartsliteratur. Doch dieses Gedicht brachte ihm bei einem breiten Publikum den Durchbruch. Am 21. Juni wird Adam Zagajewski 75 Jahre alt.

«Vielleicht war es die Bewegung zwischen dem Bild der Vernichtung und der bescheidenen Hoffnung in der letzten Zeile, die einigen Lesern geholfen hat», sagt Zagajewski heute über den Erfolg seines berühmtesten Gedichts, das die Menschen in einer Zeit existenzieller Angst an Momente der Schönheit und des Glücks erinnerte. Verfasst habe er es unter dem Eindruck einer Wanderung, die er mit seinem Vater in den südpolnischen Beskiden durch verlassene ukrainische Dörfer unternahm, deren Bewohner zwangsumgesiedelt worden waren. «Diese leeren Dörfer, das habe ich nie vergessen. Die Häuser waren leer, die Obstbäume völlig verwildert. Und gleichzeitig lag darin eine wilde Schönheit.»

Der Verlust einer Welt, die es in dieser Form nie wieder geben wird, das mit diesem Verlust verbundene Gefühl der Unbehaustheit - das sind Leitthemen in vielen Werken Zagajewskis. Sie hängen auch mit seiner Biographie zusammen. Zagajewski wurde im Juni 1945 in Lwiw (Lemberg) in der heutigen Ukraine geboren. Kurz darauf wurde er mit seiner Familie vertrieben - im Rahmen der Zwangsumsiedlung der polnischen Bevölkerung aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten. Wie viele andere landete Zagajewskis Familie im schlesischen Gleiwitz. Also dort, wo zuvor die deutsche Bevölkerung vertrieben wurde.

Lemberg gehörte seit dem Mittelalter zu Polen, wurde Ende des 18. Jahrhunderts der K.u.k-Monarchie zugeschlagen, ging nach dem Ersten Weltkrieg wieder an Polen. Im Jahre 1939 fiel die Stadt infolge des Hitler-Stalin-Pakts unter die sowjetische Besetzung Ostpolens, wurde 1941 von den Deutschen eingenommen und später schliesslich wieder von der Sowjetunion. Bis zum Zweiten Weltkrieg ein multikultureller Ort, bewohnt von Polen, Deutschen, Ukrainern, Juden und Armeniern.

Für Zagajewski ist diese Stadt ein Sehnsuchtsort, mythenumwoben durch die Erzählungen seiner Familie. «Es gab zu viel Lemberg, und jetzt gibt's die Stadt überhaupt nicht» heisst es in dem Gedicht «Nach Lemberg fahren», in dem das Ziel nie erreicht wird. «Warum muss jede Stadt zum Jerusalem werden und jeder Menschen zum Juden, und jetzt nur in Eile packen, ständig, täglich packen und atemlos fahren nach Lemberg.»

Das ungeliebte industrielle Gleiwitz verlässt Zagajewski, um in Krakau Psychologie und Philosophie zu studieren. Im Jahr 1967 debütiert er in dem Heft «Zycie Literackie» mit dem Gedicht «Musik». Er gehört zu den Vertretern eines neuen Realismus in der polnischen Dichtung. 1975 unterzeichnet er den «Brief der 59», mit der Intellektuelle gegen eine Verfassungsänderung protestieren, die die Position der Kommunistischen Partei stärken soll. Nach der Verhängung des Kriegszustands in Polen geht Zagajewski 1982 ins Exil nach Paris, später in die USA. Seit 2002 lebt er mit seiner Frau wieder in Krakau, er lehrt regelmässig an der University of Chicago.

Für seine Werke ist Zagajewski vielfach ausgezeichnet worden. So erhielt er den Prinzessin-von-Asturien-Preis (2017), den Heinrich-Mann-Preis (2015), den Eichendorff-Literaturpreis (2014) sowie den Neustadt International Prize of Literature (2004), der in Amerika als «kleiner Literatur-Nobelpreis» gilt. Auch für den Nobelpreis selbst ist Zagajewski immer wieder im Gespräch.

«Ein Gedicht - oder einen Essay - zu schreiben bedeutet, ein Ganzes zu bilden, sich von der ewigen Dialektik, ewigen Skepsis, ewigen Ironie zu befreien», sagt Zagajewski über den Prozess des Schreibens. Im vergangenen Jahr erschienen von ihm auf Polnisch zwei Bücher: Der Gedichtband «Das wahre Leben» (Prawdziwe zycie) und die Essaysammlung «Die ungeordnete Substanz» (Substancja nieuporzadkowana). Es falle ihm immer schwer, gleich nach einer Publikation ein neues Buch zu konzipieren, so der Autor. Derzeit arbeite er an Gedichten und schreibe auch Essays, er hoffe, dass daraus eines Tages ein neues Buch entstehen werde. Auf Deutsch soll nach Verlagsangaben im Frühjahr 2021 der Band «Poesie für Anfänger. Essays» erscheinen.

Seinen 75. Geburtstag wird Adam Zagajewski mit seiner Frau Maja Wodecka und einigen Freunden im kleinen Kreis feiern. Das Wort «Jubiläum» mag er nicht. «In diesem Jahr hilft die Epidemie: Versammlungen sind nicht gewünscht», sagt er.

© dpa-infocom, dpa:200615-99-424862/6

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