Die deutsche Sprache wird aktuell stark politisiert. Lenken diese Diskussionen jedoch nur von gesellschaftlich relevanteren Themen ab? Ein Gastbeitrag.
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Michael Ritter ist Berner GLP-Grossrat und Nationalratskandidat. - zVg

Das Wichtigste in Kürze

  • Im aktuellen Wahlkampf wird viel über die deutsche Sprache diskutiert.
  • Bei einigen Themen sind die Debatten jedoch komplett entgleist und wirken schon surreal.
  • Ein Gastbeitrag des Berner GLP-Grossrats Michael Ritter.
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Der Wahlkampf 2023 zu den eidgenössischen Wahlen hat eine Nuance, die früheren Schweizer Wahlkämpfen eher fremd war, nämlich Polemiken um «Woke» oder «Anti-Woke». Die ideologische Auseinandersetzung dreht sich nicht ausschliesslich, aber schwergewichtig, um Sprache. Schon das ist der mehrsprachigen Schweiz, die bis auf das Rumantsch keine echte «Nationalsprache» hat und damit sehr gut gefahren ist, fremd.

Dass politische Schlachten mit und um Sprache geschlagen werden, ist natürlich nicht neu. Es stimmt auch nicht, dass das in der Schweiz noch nie vorgekommen wäre. Eher ungewöhnlich ist, dass die Sprache «als solche» derart stark politisiert wird. Man darf sich fragen, ob die teilweise abstrusen Diskussionen nicht eigentlich von relevanten gesellschaftlichen Problemen ablenken sollen.

Die Anfänge der Diskussion liegen im deutschen Sprachgebiet in der Forderung, dass in der Sprache die Frauen nicht durch Nichtnennung übergangen werden. Diese Forderung ist sehr alt und begleitet die Debatte um die Gleichstellung von Mann und Frau seit immer. Ich sehe es als klaren Fortschritt, aber auch als Selbstverständlichkeit an, dass 2023 beide Geschlechter genannt werden, sofern es in der bezeichneten Gruppe Frauen und Männer gibt, was fast immer der Fall ist.

Gendern
Das Gendern wird stets kontrovers diskutiert. (Symbolbild) - dpa

Künstliche sprachliche Verrenkungen sind meist unnötig. Hier gibt es viele kuriose Entgleisungen, etwa «Mitgliederin» («das Mitglied» ist aber gar nicht männlich, sondern sächlich). Vor solchen Verhunzungen halte ich mich fern, aber wahrscheinlich ist bisher auch niemand an solchem Unfug gestorben. Ob es etwas bringt, Bezeichnungen für Institutionen, etwa «Lehrerkonferenz», in etwas umständlichere Begriffe wie «Lehrpersonenkonferenz» umzubenennen, sei dahingestellt.

Die dahinter liegenden sprachlichen Gegebenheiten sind übrigens hochinteressant, aber schon auch ganz weit weg von den Fragen, die die Menschheit im Allgemeinen und die Schweizerinnen und Schweizer im Besonderen in den nächsten Jahren vital betreffen werden.

Mit besonderer Verbissenheit, gegen die die alten Sprach-Schlachten des Feminismus ab den 1970ern wie drollige Sandkastenrangeleien wirken, wird derweil um die Nennung oder Nichtnennung weiterer Geschlechterbezeichnungen als «männlich» und «weiblich» gerungen. Die Debatte ist leider komplett entgleist und wirkt inzwischen surreal. Zunächst ist ja das Auftauchen des Bewusstseins, dass das soziale und das biologische Geschlecht nicht immer und zwangsläufig zusammenfallen, ein Fortschritt.

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Das Problem ist aber, dass daraus nicht einfach abgeleitet werden kann, bei jeder Gelegenheit jede denkbare Erscheinungsform von Geschlechtlichkeit zu benennen. Noch ganz abgesehen von den praktischen Schwierigkeiten gibt es nämlich auch keineswegs ein allgemeines Recht, jede individuelle Situation immer sprachlich benannt zu bekommen. So etwas kann die Sprache nicht leisten, oder genauer: Hinter einer solchen Forderung steckt eine naive, ja kindische Auffassung von Sprachlichkeit.

Sprache verallgemeinert immer, sie funktioniert sonst gar nicht. Sie kann nie jederzeit jeden Spezialfall abbilden, krasser noch: Sie bildet meistens sehr viele Spezialfälle überhaupt nicht ab. Hier schliesst sich der Kreis, denn auch wenn 2023 kaum noch jemand ernsthaft Frauen als «Spezialfall» einreiht, der gar nicht genannt werden muss, so liegt der Fall bei kleinen Minderheiten durchaus anders. Wenn es aus besonderen Gründen ausnahmsweise nötig ist, «queere» Personen ausdrücklich anzusprechen, dann macht man das eben. So what?

Zum Autor: Michael Ritter ist GLP-Grossrat im Kanton Bern und kandidiert für den Nationalrat.

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