Seit 2018 sind 16 Personen im Libanon wegen Blasphemie und der «Anstachelung von sektiererischen Streitigkeiten» angeklagt worden. Ein Gastbeitrag.
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Sophie Haesen ist Vorstandsmitglied der Sektion Freidenkende Nordwestschweiz - zvg
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Das Wichtigste in Kürze

  • Sophie Haesen ist im Vorstand der Sektion Freidenkende Nordwestschweiz.
  • Auf Nau.ch schreibt Haesen einen Gastbeitrag über den Libanon.

Die libanesische Freidenker-Vereinigung «Freethought Lebanon» veröffentlichte diesen Frühling ihren Bericht über rechtliche Probleme für AtheistInnen und andere Personen, die nicht den staatlich anerkannten Religionen angehören.

Seit 2018 sind 16 Personen – darunter KünstlerInnen, AktivistInnen und JournalistInnen wegen Blasphemie und der «Anstachelung von sektiererischen Streitigkeiten» angeklagt worden.

In den meisten Fällen wandte die Strafverfolgung die bestehenden Gesetze selektiv an, statt den vorgeschriebenen Prozeduren zu folgen. So wurden die Inhaftierten etwa gezwungen, Geständnisse zu unterschreiben oder ihre Postings in sozialen Medien zurückzuziehen oder sie wurden vollständig von sozialen Medien verbannt.

Auch sonst werden die Verfassung und vom Libanon unterzeichnete internationale Vereinbarungen wie die Internationale Erklärung der Menschenrechte regelmässig ignoriert.

BürgerInnen zweiter Klasse

Der heutige Libanon entstand 1920 als französisches Mandat. Auch nach der Unabhängigkeit 1943 blieb es bei einem konfessionalistischen und diskriminatorischen System, in dem jede Person durch ihre Religion definiert wird.

Atheismus ist zwar keine Straftat, aber wer nicht zu einer der offiziellen Religionen gehört (schlimmer noch: zu gar keiner), kann am System kaum teilnehmen und wird zu einem Bürger zweiter Klasse.

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Blick in eine Strasse der libanesischen Stadt Byblos. - Sophie Haesen

Positionen in Verwaltung und Regierung werden nach Religionszugehörigkeit vergeben, in Artikel 22 der Verfassung wird etwa betont, dass der Senat national und nicht konfessionell sei und in ihm «alle spirituellen Familien vertreten» seien. Ebenso sollen die Sitze im Parlament gleichmässig zwischen Muslimen und Christen verteilt werden.

Auch zivile Angelegenheiten wie Heirat oder Erbschaft hängen davon ab, in welcher Religion man geboren wurde, unabhängig von den tatsächlichen Überzeugungen. Viele Paare reisen für eine standesamtliche Heirat nach Zypern, da dies im Libanon selbst so gut wie gar nicht möglich ist.

Sozialer Frieden durch Zensur

Artikel 9 der Verfassung schützt zwar die Glaubens- und Gewissensfreiheit, zitiert aber «den Allerhöchsten» und geht offensichtlich davon aus, dass jeder Mensch einer Konfession angehöre.

Indem gesagt wird, dass der Staat «alle Konfessionen und ihre jeweiligen Praktiken» respektiert, geht in der Verfassung alle Macht an religiöse Gruppen. Das Publikationsgesetz garantiert zwar die Pressefreiheit, doch die durch Artikel 13 der Verfassung geschützte Meinungsfreiheit wird direkt durch «die durch das Gesetz fixierten Grenzen» begrenzt – vor allem, wenn eine Meinung dem religiösen Glauben widerspricht.

Dies wird in Artikel 473, 474 und 475 des Strafgesetzbuchs deutlich. Aussagen, die Religion, Gottheiten oder religiöse Äusserungen kritisieren, werden durch den Justiz- und Sicherheitsapparat unterdrückt. Dies wird oft damit begründet, dass man den «sozialen Frieden aufrechterhalten» wolle.

So kann jede Meinung, die ein religiöser oder politischer Führer als potenziell bedrohlich empfindet, als nationales Sicherheitsproblem bezeichnet und zensiert werden. Auf diese Weise wird ein zunehmender Teil der libanesischen Gesellschaft marginalisiert – vor allem FreidenkerInnen, die keine Verbindungen zu einer Religion haben.

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Ruinen in Beirut. - Sophie Haesen

Doch mit der Beschränkung der Freiheiten geht in den meisten Fällen ein intellektueller, wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Niedergang einher. Ohne Meinungsfreiheit ist die Glaubensfreiheit bedeutungslos, und ohne gleiche Rechte bleibt man ein Anhänger einer Religion, anstatt ein freier Bürger zu sein.

Welthumanistentag vom 21. Juni

Internationale Solidarität mit FreidenkerInnen und ihren Organisationen, die in manchen Ländern noch immer einen schweren Stand haben, ist im digitalen Zeitalter ungleich einfacher geworden – und wichtig.

Gelegenheit hierzu bietet zum Beispiel der Welthumanistentag, der am 21. Juni gefeiert wird. An diesem Tag machen internationale Organisationen und auch die Freidenkenden Schweiz auf die positiven Werte des Humanismus und seine wichtigsten Anliegen aufmerksam.

Die Freidenkenden Schweiz feiern dieses Jahr virtuell. Die Veranstaltung ist kostenlos und bietet hochkarätiges Programm: Die Spoken-Word-Kabarettistin Patti Basler und der Pianist Philippe Kuhn werden ebenso zu Gast sein wie die Schauspielerin Alice Schönenberger, der österreichische Kabarettist Gunkl, die amerikanische Autorin Sasha Sagan und die australische Sängerin Shelley Segal. Für mehr Infos siehe: welthumanistentag.ch.

Zur Autorin: Sophie Haesen absolvierte in Hamburg ein Studium in Romanistik und Erziehungswissenschaften, später studierte sie in Basel Medizin und Epidemiologie und schloss Ende 2019 ihr Doktorat in Bioethik ab. Sie ist im Vorstand der Sektion Freidenkende Nordwestschweiz.

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