Was hinter der Wut junger Linksextremer steckt
Nach der «Schande von Bern»: Experten erklären, warum politischer Extremismus und Gewalt bei jungen Menschen Anklang findet.

Das Wichtigste in Kürze
- In Bern kam es am Samstag zu massiven Ausschreitungen bei einer Pro-Palästina-Kundgebung.
- Immer mehr junge Menschen neigen zu Gewalt in politischen Kreisen.
- Experten erklären, warum sich die Jungen damit so gut identifizieren können.
Die Berner Innenstadt wurde am vergangenen Samstag zum Schauplatz linksextremer Gewalt.
Die Vorkommnisse wurden von mehreren Zeitungen als «Schande von Bern» betitelt. Die Politik, darunter auch der Berner Sicherheitsdirektor Alec von Graffenried, zeigte sich schockiert.
Politische Gewalt und Rebellion – ob von rechts oder von links – scheinen Coolness und eine gewisse Attraktivität zu verströmen.
Das wirkt sich auch auf das Alter der Gewalttätigen aus. Die grosse Mehrheit der Festgenommenen an der Berner Demonstration waren gemäss polizeilichen Angaben zwischen 20 und 29 Jahre alt. 23 festgenommene Personen waren sogar noch minderjährig.
Keine leichte Zeit für die Schweizer Jugend
Für den Gewaltforscher Dirk Baier liegt ein Teil der Erklärung in der aktuellen weltpolitischen Lage. Die jetzige Zeit sei für Jugendliche alles andere als leicht.
«Überall gibt es Krisen, die Zukunft ist unsicher wie nie. Das führt dazu, dass es ein Interesse an Halt gebenden Gruppen und Ideologien gibt», erklärt Baier.
Das dürfte auch der Grund sein, warum sich junge Menschen dem Schwarzen Block anschliessen. Oder «in die Fussball-Hooligan-Szene abgleiten oder mit der Jungen Tat campen gehen».
Gewalt hat Coolness-Faktor
Für diese jungen Menschen sei es dann durchaus «cool», mit Gewalt zu agieren. «Die Gewaltausübung ist prinzipiell ja einfach — jedermann kann Gewalt anwenden», sagt Baier.
Die Möglichkeit, sich gegen andere durchzusetzen, stärke den Selbstwert und die Selbstwirksamkeit.
«Für junge Menschen, die sonst wenig Anerkennung und Orientierung haben, ist das attraktiv.»
Gegen «all das Böse» kämpfen
Die Frage, ob Jugendliche bei linksextremen Ausschreitungen gegen «all das Böse» kämpfen, lässt Raum für Spekulation offen. «Je nach Perspektive kann ‹das Böse› unterschiedliches bedeuten», sagt Baier.
Während es bei Rechten die Antifa und Wokeismus sind, erhitzen Kapitalisten und Faschisten die Gemüter linker Anhänger.
Baier: «Immer dann, wenn es zu einem solchen Schwarz-Weiss-Denken kommt, wird es gefährlich.» Denn damit sei auch ein Freund-Feind-Denken verbunden.
Würden Gruppen als Feinde deklariert, sei die De-Humanisierung und Gewaltanwendung plötzlich legitim. Der Gewaltforscher zieht dabei auch Parallelen zu den jüngsten Ereignissen in Bern.
Die Justiz wird als Feind deklariert
«Deswegen greifen Linksextreme auch Polizisten an: Sie sehen in ihnen nicht die Menschen, sondern die Vertreter des verfeindeten Staates.»
Es sei menschlich, in einfachen Kategorien zu denken und die Welt so einzuteilen. Das reduziere schliesslich auch die Komplexität.
Baier: «Gerade in einer unübersichtlichen Welt, in der auch viele Fake-News die Übersichtlichkeit erschweren, greifen wir auf einfache Denkschablonen zurück.»
Es gebe immer wieder Situationen, in denen Gewalt leichter falle, nicht nur bei Demonstrationen. «Auch, wenn politische Vorbilder sich nicht mehr an Regeln halten. Wenn sie Feindbilder konstruieren, Gewalt fordern und ausüben, sind die Menschen eher bereit, sich so zu verhalten.»
Grosser Konsens gegen Gewalt
Aber: «Man darf nicht müde werden, zu betonen, dass die allergrösste Zahl der Jugendlichen keine positive Haltung zu Gewalt hat.»
Es bestehe weiterhin ein grosser Konsens, «dass Gewalt kein Mittel der Durchsetzung persönlicher oder politischer Ziele ist», erklärt Baier.
Es komme aber immer wieder zu solchen Gewaltausbrüchen. Zuletzt in Bern, zuvor bei der Besetzung des Zürcher Kasernenareals.
«Gewalt ist aversiv», betont Baier. «Unsere Gesellschaft möchte unbedingt vermeiden, dass es zu Gewalt kommt.»
Doch gerade in der Menge, Stichwort Gruppendruck, sei das Risiko gross, gegen die eigenen Überzeugungen zu handeln.
Baier: «Ich denke, dass viele junge Menschen, die am Samstag dabei waren, die Eskalationen im Nachhinein verurteilen.»
«Linke müssen mit ihnen noch mehr diskutieren»
Auch Ueli Mäder, emeritierter Professor für Soziologie, zeigt sich verhalten optimistisch. «Wenn es bei Kundgebungen zu physischer Gewalt kommt, identifizieren sich nur wenige damit», sagt er.
Die meisten hielten Gewalt für kontraproduktiv. Doch: «Das Gefühl, keinen Einfluss zu haben, führt bei Einzelnen dazu, gewaltsam zu handeln.»
Die Lösung des Problems scheint zugleich einfach und schwierig. «Linke müssen mit ihnen noch mehr diskutieren», resümiert Mäder. «Ebenso mit Ordnungskräften, die zu wenig deeskalieren.»