EU

Neue EU-Verträge: Würde die Sozialhilfe explodieren?

Simon Ulrich
Simon Ulrich

Bern,

Der Bund rechnet mit bis zu 4000 zusätzlichen Sozialhilfe-Fällen pro Jahr. Grund ist das geplante Daueraufenthaltsrecht für EU-Bürger.

Zuwanderung
Ein neues Daueraufenthaltsrecht für EU-Bürger sorgt für hitzige Debatten. Der Bund rechnet mit Mehrkosten – die SVP mit Massenzuzug. - keystone

Das Wichtigste in Kürze

  • Neue EU-Verträge könnten 690'000 EU-Bürgern Bleiberecht ohne Sprachpflicht ermöglichen.
  • Voraussetzung ist fünfjährige Erwerbstätigkeit – das Arbeitspensum ist aber unklar.
  • Kritiker befürchten steigende Sozialkosten und massiven Familiennachzug.
  • Befürworter betonen Integration durch Arbeit und verweisen auf Schutzklauseln.

Die neuen EU-Verträge dürften weitreichende Folgen für die Schweiz haben. Rund 690'000 EU-Bürger könnten fünf Jahre nach Inkrafttreten der neuen Personenfreizügigkeitsregeln ein Daueraufenthaltsrecht beantragen.

Das geht aus Schätzungen von Experten im Auftrag des Bundes hervor.

Wer bleiben will, muss kein Deutsch können

Bemerkenswert: Das neue Bleiberecht setzt keine Integrationskriterien voraus, wie der «Tagesanzeiger» berichtet. Heisst: Auch wer kein Deutsch, Französisch oder Italienisch spricht, kann dauerhaft in der Schweiz bleiben.

Voraussetzung ist lediglich eine fünfjährige Erwerbstätigkeit – wobei das erforderliche Arbeitspensum nicht klar definiert ist.

Die Sorge, dass sich EU-Bürger ohne Beherrschen einer Landessprache dauerhaft niederlassen könnten, hält FDP-Ständerat Damian Müller für unbegründet. Zu Nau.ch sagt er: «Ohne Sprachkenntnisse werden sie aus meiner Erfahrung auch keine Anstellung erhalten und dann gibt es auch kein Aufenthaltsrecht.»

Integriert würden Menschen über eine regelmässige Arbeit – und das gehe nur mit einer Stelle in der Schweiz.

«Dafür müssen Sie einen Arbeitgeber überzeugen. Wie wollen Sie das ohne Sprachkenntnisse?», sagt Müller.

Ähnlich argumentiert SP-Nationalrat Fabian Molina gegenüber Nau.ch. Erwerbstätigkeit sei ein zentraler Motor für Integration – auch ohne formellen Sprachnachweis: «Die meisten Menschen, die hier arbeiten, eignen sich die Sprache im Alltag und am Arbeitsplatz an.»

Zuwanderung könnte Sozialhilfe belasten

Für die Folgejahre rechnen die Fachleute mit jährlich bis zu 70’000 weiteren potenziellen «Daueraufenthaltern». Etwa 20’000 davon könnten zuvor arbeitslos oder kurzfristig auf Sozialhilfe angewiesen gewesen sein.

Wer das Daueraufenthaltsrecht erhält, verliert es auch bei Bezug von Sozialleistungen nicht mehr.

Der Bund geht folglich von 3000 bis 4000 zusätzlichen Sozialhilfefällen pro Jahr aus. Er rechnet dabei mit jährlichen Mehrkosten von bis zu 74 Millionen Franken.

Hinzu kommen erwartete Ausgaben für Ergänzungsleistungen und zusätzliche Arbeitslosenmeldungen in Höhe von bis zu 29 Millionen Franken.

Damian Müller
«Ohne Sprachkenntnisse werden sie aus meiner Erfahrung auch keine Anstellung erhalten und dann gibt es auch kein Aufenthaltsrecht», sagt der Luzerner FDP-Ständerat Damian Müller. - keystone

Müller bezeichnet solche Prognosen als «Spekulation». Die bisherigen Regeln würden im Wesentlichen unverändert bleiben. «Entweder kommen EU-Staatsangehörige als Erwerbstätige in die Schweiz – dann benötigen sie einen Arbeitsvertrag. Oder sie gründen hierzulande ein Unternehmen.»

Personen, die nicht arbeiten, müssten hingegen nachweisen, dass sie über genügend Mittel verfügen, so Müller.

Auch Molina sieht keinen Grund zur Panik. «Die Zahlen zeigen, dass die Sozialhilfebezüge von EU-Bürgern und EU-Bürgerinnen in den letzten Jahren rückläufig sind. Die Sozialhilfequote lag 2019 bei unter zwei Prozent», sagt der Sozialdemokrat.

Entscheidend sei, dass die Zuwanderung weiterhin arbeitsmarktorientiert bleibe.

SVP warnt vor Massenzuzug ganzer Familien

Die Gegner der EU-Verträge warnen hingegen vor einem massiven Familiennachzug. SVP-Nationalrat Pascal Schmid nennt im «Tagesanzeiger» das Beispiel eines Syrers, der in Deutschland eingebürgert wurde und in die Schweiz einwandert.

Dieser könne «danach seine Grossfamilie samt Enkeln, Grosseltern und pflegebedürftigen Onkeln und Tanten direkt aus Syrien nachziehen», so Schmid.

Tatsächlich erhielten 2024 über 83’000 Syrer und rund 14’000 Iraker den deutschen, also einen EU-Pass. Diese Personen dürfen allerdings schon heute unter Einhaltung geltender Regeln in die Schweiz einreisen und Familienmitglieder nachziehen, heisst es in der Zeitung.

Molina
SP-Nationalrat Fabian Molina sagt: «Die neuen Regelungen zum Familiennachzug sind klar definiert und berücksichtigen die Lebensrealität moderner Familien.» - Keystone

Neu ist, dass künftig auch eingetragene Partner ein Recht auf Nachzug erhalten. Zudem können Lebenspartner und pflegebedürftige Angehörige unter bestimmten Bedingungen leichter nachkommen – die Behörden entscheiden im Einzelfall.

Auch Eltern, Grosseltern oder Kinder aus Drittstaaten könnten künftig vom Daueraufenthaltsrecht profitieren. Voraussetzung bleibt, dass die Bezugsperson fünf Jahre in der Schweiz gearbeitet hat.

FDP-Ständerat: Schweiz würde Einwanderung ganzer Clans nicht zulassen

Müller hält das Szenario des SVP-Asylchefs für reine Polemik: «Es ist einfach falsch, wenn die SVP erzählt, dass dann ganze Sippen und Clans im Schlepptau einwandern können. Dies ist nicht Teil des Vertrages und wir würden dies auch niemals zulassen.»

Molina betont, die neuen Regeln seien «klar definiert und berücksichtigen die Lebensrealität moderner Familien».

Sie ermöglichten etwa eingetragenen Partnern und pflegebedürftigen Angehörigen, unter bestimmten Voraussetzungen nachzuziehen.

Bist du mit den neuen EU-Verträgen zufrieden?

«Das stärkt den sozialen Zusammenhalt und entspricht europäischen Standards, ohne die Kontrolle der Schweizer Behörden einzuschränken», so Molina.

Die Kantone fordern derweil ein Sozialhilfe-Monitoring und finanzielle Unterstützung vom Bund, um den erwarteten Mehraufwand abzufedern.

Die Bundesbehörden verweisen dagegen auf bestehende Schutzmechanismen: Sollte es zu schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen Problemen kommen, könnte die Schweiz den freien Personenverkehr vorübergehend einschränken.

Wie wirksam wäre die Schutzklausel?

Aussenminister Ignazio Cassis hatte diese sogenannte Schutzklausel als besondere Errungenschaft der neuen Verträge hervorgehoben. Kritiker wie Pascal Schmid halten sie hingegen für ein Feigenblatt mit zu hohen Hürden.

Schmid
SVP-Asylchef Pascal Schmid warnt vor massivem Familiennachzug «samt Enkeln, Grosseltern und pflegebedürftigen Onkeln und Tanten direkt aus Syrien nachziehen». - keystone

Müller widerspricht: «Die Schutzklausel kann und wird auch angerufen werden, wenn wir wollen, beziehungsweise wenn die Zuwanderung problematisch werden sollte.»

Auch Molina sieht in der Klausel ein griffiges Instrument: «Die Schweiz kann das Verfahren auch gegen den Willen der EU einleiten.»

Kommentare

User #6164 (nicht angemeldet)

Tolle Aufträge für die Sozialindustrie das wird Rot Grün sicher freuen!

User #3577 (nicht angemeldet)

Der Bundesrat selber spricht von 10000 mehr Sozialfällen. Bei der Personfreizügigkeit sagte der BR, es kommen hôchstens 8000. Geworden sind es 120'000 pro Jahr. Die Energie wende kostet 40 Fr. Pro Jahr. Geworden ist es das einhundertfache. Noch Fragen? NEIN STIMMEN

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