Die drohende vierte Corona-Welle bestimmt die Debatte. Wie soll es im Kampf gegen das Virus weitergehen? Dabei steht sogar der Begriff «vierte Welle» selbst in der Kritik.
Die Forderung nach einer Impfpflicht für das Personal in Kitas und Schulen stösst auf Kritik. Foto: Sven Hoppe/dpa
Die Forderung nach einer Impfpflicht für das Personal in Kitas und Schulen stösst auf Kritik. Foto: Sven Hoppe/dpa - dpa-infocom GmbH
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Das Wichtigste in Kürze

  • Die Debatte um die Impfpflicht für Schul- und Kitapersonal, die Situation der Schulen nach den Ferien und die steigende Corona-Inzidenz in Verbindung mit immer mehr Geimpften: Die aktuelle Corona-Situation ist vielschichtig und bei vielen Fragen gibt es unterschiedliche Vorstellungen.

Wie sehen die aktuellen Zahlen aus?

Seit einer Woche steigt die 7-Tage-Inzidenz jeden Tag an. Nach Angaben des Robert Koch-Instituts lag sie heute Morgen bei 6,5. Genau eine Woche zuvor betrug der Wert von Neuinfektionen je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen 4,9. Die Gesundheitsämter in Deutschland haben RKI binnen eines Tages 646 Corona-Neuinfektionen gemeldet, es gab 26 Todesfälle im Zusammenhang mit dem Virus. Die für die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Virus massgebende Reproduktionszahl lag laut RKI gestern bei 1,15. Die Zahl bedeutet, dass 100 Infizierte rechnerisch 115 weitere Menschen anstecken. Liegt der Wert anhaltend über 1, steigen die Fallzahlen. Liegt er für längere Zeit unter 1, flaut das Infektionsgeschehen ab.

Was passiert ?

Bundeskanzlerin Angela Merkel und Gesundheitsminister Jens Spahn (beide CDU) besuchen das Robert Koch-Institut (RKI) in Berlin. Merkel wolle sich über aktuelle Aufgaben, Vorhaben und Herausforderungen beim RKI austauschen, hiess es vorab von Regierungsseite. Ausserdem gehe es bei den Gesprächen um den Einfluss der Impfkampagne auf den Pandemieverlauf. Im Anschluss ist eine gemeinsame Pressekonferenz geplant (12.00 Uhr).

Das Impfen und die vierte Welle

Der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, fordert eine intensivere Impfkampagne. «Ich vermisse den TV-Spot zum Impfen vor der Tagesschau. Und dann müssen wir direkt vor Ort informieren, und zwar genau da, wo die Impfbereitschaft bisher gering ist. Wir müssen auf die Menschen zugehen», sagte Reinhardt der «Rheinischen Post». Man müsse nicht nur Sportvereine, sondern auch Kulturvereine und Glaubenseinrichtungen für die Impfkampagne mit ins Boot holen. «Statt zu verordnen, müssen wir vor Ort sein.»

Die Frage, inwieweit die erhöhten Inzidenzwerte zu einer Belastung des Gesundheitssystems führen werden, hänge massgeblich von der Impfquote ab, sagte Reinhardt. «Ich finde, jeder Erwachsene steht in der Verantwortung, durch seine Impfung dazu beizutragen, das Infektionsgeschehen niedrig zu halten - auch zum Schutz der Kinder. Sie sind bisher die grossen Verlierer der Pandemie.»

- weniger schwere Verläufe

Der Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi), Gernot Marx, sagte der Zeitung: «Wir haben in Deutschland aktuell mehr als die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung geimpft, was sich deutlich in der Belegung der Intensivstationen bemerkbar machen wird. Wir erwarten bei einem erneuten Anstieg der Inzidenzen deshalb eine deutlich flachere Kurve mit Blick auf die schwer erkrankten Patienten.»

Das sieht der Chef der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Gerald Gass, ähnlich. Mit Blick auf den Herbst sagte er der «Bild»: «Wir erwarten bei gleicher Inzidenz viel weniger Corona-Patienten in den Kliniken.» Deshalb sieht er auch den Begriff der «vierten Welle» kritisch: «Das sorgt bei den Bürgern nur für die Angst, dass mit steigenden Fallzahlen die Intensivstationen wieder mit Covid-Patienten volllaufen - dank der Impfung wird das aber nicht der Fall sein.»

Vorsicht ist aus Sicht von Intensivmediziner Marx aber dennoch weiter angemessen: «Sollten die Infektionsraten sprunghaft ansteigen und ungebremst anwachsen, werden wir auch wieder eine deutliche Zunahme an schwer kranken Patienten erleben, die auf der Intensivstation behandelt werden müssen. Denn wir dürfen eben nicht vergessen: 40 Millionen Menschen in Deutschland sind eben noch nicht geimpft.»

Offene Schulen?

«Die Bundesregierung muss die Sommermonate nutzen und alles tun, damit die Schulen nach den Sommerferien wieder in den normalen Regelbetrieb kommen», sagte FDP-Generalsekretär Volker Wissing dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). «Die Alternativen Fernunterricht und Wechselunterricht sind nach so langer Zeit keine Optionen.»

Der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes klingt verhaltener. «Das Szenario eins, von dem wir alle hoffen, dass es Wirklichkeit wird, heisst vollständiger Präsenzunterricht mit einer Sicherheitsphase von mehreren Wochen, wo weiterhin erhöhte Gesundheitsschutzmassnahmen gelten», sagte Heinz-Peter Meidinger dem RND.

«Zur Wahrheit gehört aber auch dazu, dass das nicht ausreichen wird, um die vierte Welle zu verhindern, weil sich diese auch ausserhalb der Schulen durch Kontakte ungeimpfter Jugendlicher untereinander verbreiten wird.» Deshalb dürfe auch eine «erneute Phase des Wechselunterrichts», bei der Vorbereitung auf das nächste Schuljahr nicht ausgeblendet werden, so der Lehrerpräsident.

Impfpflicht für Schul- und Kitapersonal

Die Forderung nach einer Impfpflicht für das Personal in Kitas und Schulen stösst weiter auf Kritik. Lehrerpräsident Meidinger argumentierte in der «Augsburger Allgemeinen»: Nach unserem Kenntnisstand ist die Impfbereitschaft bei Lehrkräften sehr hoch, so liegt die Quote der bereits erstgeimpften Lehrkräfte in einigen Bundesländern bei nahe 90 Prozent.» Die Hauptinfektionsgefahr für die Kinder und Jugendlichen drohe also nicht von Erwachsenen und schon gar nicht von Lehrkräften, sondern von Gleichaltrigen.

SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach bekräftigte gegenüber der «Rheinischen Post»: «Eine Impfung gegen Covid-19 muss die freiwillige Entscheidung jedes Einzelnen sein. Hier muss und wird die Politik zu ihrem Wort stehen. Das gilt auch für Lehrer und Erzieher.» Der Humangenetiker Wolfram Henn vom Deutschen Ethikrat hatte am Montag eine Impfpflicht für das Personal gefordert.

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