Kolumne

Insomnia: Wenn die Nacht zum Albtraum wird

Judith Heede
Judith Heede

Bern,

Schlafmangel kann ernsthafte Auswirkungen auf die Gesundheit haben. Wie es dazu kommen kann und was Sie dagegen tun können, erkläre ich hier.

Schlaflosigkeit
Wer sich stundenlang von einer Seite auf die andere wälzt und den Schlaf nicht findet, kennt ihn: diesen stillen, nächtlichen Horror, der sich durch den Körper frisst und die Seele zermürbt. - Unsplash

Das Wichtigste in Kürze

  • Wenige Nächte mit Schlafmangel können das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen erhöhen.
  • Chronische Schlaflosigkeit kann zu ernsthaften gesundheitlichen Problemen führen.
  • Verhaltenstherapie, Meditation und Schlafhypnose können helfen, den Schlaf zu verbessern.

Nach elf Tagen stirbt man. Angeblich. So lange ist Randy Garber jedenfalls ohne Schlaf ausgekommen. Der damals 17-jährige Schüler aus Kalifornien stellte 1963 im Rahmen eines Schulprojekts einen Weltrekord auf: 264 Stunden ohne Schlaf. Das sind genau 11 Tage und 25 Minuten.

Danach war er zumindest halb tot: halluzinierend, verwirrt, emotional entgrenzt, körperlich am Ende.

Mein persönlicher Rekord liegt bei sechs Nächten. Sechs durchwachten Nächten, in denen ich mich von links nach rechts gewälzt habe. In denen ich halluzinierte, weinte, schrie, betete. Und trotzdem nicht zur Ruhe kam. Kein Licht, keine Tablette, kein Gebet hat mich durch diese Nächte getragen.

Insomnia: Ein ewiger Albtraum

Mit meiner jahrelangen Schlaflosigkeit bin ich allerdings nicht allein: Schlafprobleme sind längst ein gesellschaftliches Massenphänomen. Laut aktuellen Zahlen des Bundesamts für Statistik leidet rund ein Drittel der Schweizer Bevölkerung unter Schlafstörungen – 26 Prozent berichten von mittleren, 7 Prozent sogar von schweren Problemen. Besonders betroffen: Frauen und ältere Menschen.

Weltweit zeichnet der ResMed Global Sleep Survey 2025 ein ähnliches Bild: Obwohl viele formal die empfohlene Mindestschlafdauer von sieben Stunden erreichen, erleben sie im Durchschnitt fast drei Nächte pro Woche unruhigen, nicht erholsamen Schlaf. Ein Drittel der Befragten berichtet regelmässig von Ein- oder Durchschlafstörungen – Tendenz steigend.

Verzweifelte schlaflose Frau umklammert ein Kissen
Schon nach drei Nächten mit zu wenig Schlaf zeigen Blutwerte messbare Entzündungen. - unsplash

Medizinisch beginnt das Drama früher, als viele denken: Bereits wenn Schlafprobleme dreimal pro Woche über mehr als einen Monat auftreten und zu spürbaren Einschränkungen führen – etwa chronischer Erschöpfung, Reizbarkeit oder Konzentrationsstörungen –, sprechen Fachleute von der St. Augustinus Klinik von einer behandlungsbedürftigen Schlafstörung. Da geht es dann nicht mehr um ein bisschen Schäfchenzählen – sondern um echte, tiefe Dysregulation im Nervensystem.

Schlaflosigkeit ist kein Lifestyle-Problem

Schlaflosigkeit ist eine Krankheit. Und zwar eine gefährliche. Weil sie sich schleichend in Körper und Kopf einnistet und alles untergräbt – das Denken, die Stimmung und Gefühle, auch die Organe. Insomnia betrifft nicht nur Menschen mit Burn-out oder Depression.

Sie frisst sich durch alle Gesellschaftsschichten. Und sie fordert weitaus mehr als nur schlechte Konzentration am nächsten Tag. Genügend Schlaf ist kein Luxus. Er ist die Basis. Für alles. Für ein stabiles Nervensystem, für klare Gedanken, für seelisches Gleichgewicht.

Drei Nächte genügen

Die Wissenschaft bestätigt, was viele spüren, aber zu oft wegschieben: Bereits wenige Nächte mit stark verkürztem Schlaf können zu körperlicher Entzündung und neurologischen Funktionsstörungen führen.

Eine neue Studie der Universität Uppsala, veröffentlicht im Mai 2025, zeigt: Drei Nächte mit nur vier Stunden Schlaf reichen aus, um bei gesunden jungen Männern Entzündungsmarker im Blut drastisch zu erhöhen – Marker, die in direktem Zusammenhang mit Herzinfarkt und Schlaganfall stehen.

Die körperliche Belastung beginnt also nicht erst nach Wochen oder Monaten. Sie beginnt sofort.

Auch Jetlag kann gefährlich sein

Als Journalistin, die regelmässig auf Reisen ist, kann ich vom Jetlag ein Lied singen. In den letzten Wochen war ich vermehrt in den USA unterwegs. Bekanntermassen ist es schwieriger, nach Westen zu reisen und körperlich mit dem Jetlag klarzukommen, als nach Osten. Ich wurde viel zu früh wach, oft um vier Uhr morgens, wenn ich zu Hause schon mit dem Kaffee am Arbeitsplatz sitzen würde.

Wieder einschlafen? No chance. Dann kommt die Panik, weil man weiss, man muss – der nächste Tag ist vollgepackt. Das Adrenalin steigt, Cortisol schiesst hoch – und dann ist eh alles aus. Nach drei Tagen kippt die Stimmung merklich. Statt Euphorie: Dämpfung. Statt Abenteuerlust: Anxiety.

Ich war unterwegs zum Grand Canyon, cruiste über die Route 66 und ging schwimmen in Floridas türkisblauem Wasser – und hatte Mühe, all das überhaupt noch aufzunehmen. Nicht, weil es nicht beeindruckend gewesen wäre. Sondern weil ich’s vor lauter Müdigkeit kaum noch wahrgenommen hab. Und irgendwann schaltet der Körper in den Autopilot – oder im schlimmsten Fall: in den Notfallmodus.

Schwarz weiss Bild Frau mit Händen über dem Gesicht
Eine Studie zeigt: Schlafmangel mindert positive Emotionen wie Freude stärker als er negative Gefühle verstärkt - unsplash

In solchen Momenten ist es umso wichtiger, für ausreichend Pausen zu sorgen, den Alltag leicht zu gestalten und viel Self-Connection zu betreiben. Sei es in Form von Meditation oder Yoga oder einfach, indem man Atemübungen macht und die Hand aufs Herz legt, um Angstzuständen und Depressionen vorzubeugen.

Ich arbeite dann viel mit Dankbarkeitsübungen und Achtsamkeit, checke oft mit mir selbst ein, um mich zu beruhigen und mental zu stabilisieren. Es hilft, sich bewusst zu machen, dass Stimmungsschwankungen oder leichte depressive Verstimmungen aufgrund von Schlafstörungen durch biochemische Prozesse im Körper verursacht werden – und keine echte Depression darstellen.

Schlafmangel reduziert positive Emotionen

Eine Studie der National University of Singapore aus dem Jahr 2025 zeigt, dass Schlafdauer sich zwar schnell erholt, aber Schlafzeiten und -architektur nach Reisen über Zeitzonen hinweg deutlich länger benötigen, um sich wieder zu normalisieren. Diese anhaltende Desynchronisation kann die Stimmung beeinträchtigen und das emotionale Wohlbefinden negativ beeinflussen.

Auch die American Psychological Association betont, dass Schlafmangel – selbst in geringem Masse – positive Emotionen wie Freude und Zufriedenheit stärker reduziert, als dass sie negative Emotionen wie Ärger steigert. Dies führt zu emotionaler Abstumpfung und einem Verlust an Lebensfreude.

Das System vergisst nichts

Der grösste Irrtum: «Ich schlaf halt schlecht.» Oder: «Ich brauch nicht viel.» Viele wissen gar nicht mehr, wie erholsamer Schlaf sich eigentlich anfühlt. Dass man morgens aufwacht – ohne Gedankensmog, ohne bleierne Müdigkeit, ohne das Gefühl, schon vor dem Frühstück ausgezehrt zu sein.

Die American Heart Association warnte im März 2025: Jugendliche mit weniger als 7,7 Stunden Schlaf pro Nacht tragen ein fünffach erhöhtes Risiko für Bluthochdruck. Und das ist nur ein Beispiel. Chronische Schlaflosigkeit gilt heute als Risikofaktor für Depression, Demenz, Adipositas, Diabetes, hormonelle Störungen – und nicht zuletzt für tiefgreifende emotionale Dysregulation.

Unser Nervensystem vergisst keine Nacht. Und kein Signal. Wenn wir ihm nicht regelmässig erlauben, sich zu regenerieren, sendet es früher oder später SOS – durch den Magen, den Blutdruck, die Stimmung oder das Immunsystem.

Schlaf ist Regulation – nicht Kontrolle

Ich hab alles probiert: Tabletten (von pflanzlichen Kräuterbonbons zur hardcore Chemiekeule), Atemübungen, Meditation, Hypnose, Schlaftees. Nichts davon war falsch. Aber nichts davon war genug. Denn Schlaf lässt sich nicht herbeizwingen. Er lässt sich nur ermöglichen.

Der eigentliche Schlüssel liegt oft nicht in der Nacht – sondern im Tag davor. Wie viel Stress toleriere ich? Welche inneren Stimmen treiben mich an? Welche äusseren Reize mute ich mir zu, ohne es zu merken?

Frau meditiert im Bett
Schlaf lässt sich nicht erzwingen – aber vorbereiten: Atemübungen, Hypnose und sanfte Klänge über Kopfhörer helfen dem Nervensystem, loszulassen.Schlaf lässt sich nicht erzwingen – aber vorbereiten: Atemübungen, Hypnose und sanfte Klänge über Kopfhörer helfen dem Nervensystem, loszulassen. - unsplash

Kognitive Verhaltenstherapie für Insomnie (CBT-I) gilt heute als effektivster nichtmedikamentöser Ansatz. Sie hilft, Schlaf mit neuen Assoziationen zu verknüpfen – und vor allem: das innere Sicherheitsgefühl wiederherzustellen. Auch digitale Tools wie Sleepio, vom britischen NHS seit 2025 offiziell empfohlen, eröffnen niedrigschwellige Wege aus dem Insomnia-Kreislauf.

Was bleibt, wenn alles still ist

Ich habe aufgehört, Schlaflosigkeit als Feind zu sehen. Sie ist ein Ausdruck. Ein Aufschrei des Körpers. Wenn ich heute wach liege – was noch manchmal vorkommt – frage ich nicht mehr: «Warum passiert mir das?» Ich frage: «Was stresst mich noch zu sehr und will gerade gesehen und geändert werden?»

Denn manchmal liegt die Ursache nicht im Bett. Sondern tief vergraben im Tagesverlauf. In alten Gedanken. In ungelösten Konflikten oder zu viel Reizen im Alltag. In einem Körper, der sich nichts sehnlicher wünscht, als endlich abschalten zu dürfen – aber nicht weiss, wie das geht.

Wenn gar nichts mehr geht

Wer nachts gar keinen Schlaf mehr findet – und das über Tage –, braucht mehr als Kräutertee oder Melatonin. Wenn der Körper so sehr im Überlebensmodus läuft, dass Adrenalin und Cortisol jede Ruhe wegpusten, dann wirken rezeptfreie Mittel oft wie Gummibärchen gegen Sturmfluten.

In solchen Phasen kann ein Gespräch mit dem Hausarzt entscheidend sein. Für den Übergang kann – mit grosser Vorsicht – auch ein verschreibungspflichtiges Medikament wie Zolpidem helfen, um den Kreislauf zu durchbrechen.

Doch Achtung: Solche Mittel sind stark abhängigkeitsfördernd. Menschen mit Suchthistorie oder psychischer Vorbelastung sollten Alternativen prüfen und unbedingt ärztlich begleitet werden.

So entkommen Sie dem nächtlichen Wahnsinn

Langfristig lösen Schlafmittel keine Schlafprobleme. Wer ernsthafte Insomnie hat, braucht meist mehr: Therapie, Nervensystemarbeit, innere Ursachenforschung. Denn chronische Schlafstörungen sind oft ein Ausdruck tiefer, unbewusster Überforderung – alter Traumata, ungelöster Konflikte, seelischer Daueranspannung.

Die gute Nachricht: Schlaf kann zurückkommen. Auch wenn er sich lange verabschiedet hat. Auch wenn man dachte, das Nervensystem ist längst irreparabel beschädigt. Es ist nicht vorbei. Denn Schlaf ist lernbar. Und er kommt zurück – nicht durch Druck oder Disziplin, sondern durch ein neues inneres Klima.

Schlaf braucht Einladung, keine Forderung

Er will nicht bekämpft, sondern verstanden werden. Dafür braucht es neue Bedingungen. Einen geregelten Tagesrhythmus, der den Körper nicht ständig überfordert. Weniger Reize. Weniger Tempo.

Und Abende, die nicht mit E-Mails, Serien oder doomscrolling enden, sondern mit einem Ritual der Rückkehr zum eigenen Körper. Das kann eine ruhige Moon-Yoga-Session sein, eine Hand aufs Herz mit bewusstem Atem oder ein innerer Body-Scan, bei dem man Stück für Stück den eigenen Körper durchwandert – ohne Ziel, nur mit Wahrnehmung. Selbst der Duft von Lavendel auf dem Kissen kann dem Körper ein klares Signal geben: Du darfst loslassen.

Wer sich aufmacht, den eigenen Schlaf zu heilen, heilt oft viel mehr. Und beginnt, den Tag so zu gestalten, dass die Nacht kein Kampf mehr ist. Sondern eine Rückkehr. Zu sich selbst. In Sicherheit. In Ruhe. In echten, tiefen Schlaf.

Über die Autorin

Judith Heede ist eine deutsche Autorin, die sich seit über 20 Jahren intensiv mit dem Thema mentale Gesundheit auseinandersetzt. Als ausgebildete Journalistin schreibt sie heute für verschiedene Medien über Mental Health.

Mehr Gedanken und persönliche Erfahrungen zu diesem Weg finden Sie auf ihrem Blog TheIrelandWriter.com. Neben ihrer praktischen Arbeit vertieft sie ihr Wissen kontinuierlich – unter anderem durch Master-Events der University of Oxford zu Trauma, psychischer Gesundheit und Wohlbefinden.

Kommentare

User #5424 (nicht angemeldet)

Das seelische Befinden widerspiegelt bloss die Lebensart der betroffenen Person, man sollte vielleicht mal sich selbst ganz offen und ehrlich betrachten und dem entsprechend einiges ändern, dann klappt es auch wieder mit den süssen Träumen.

User #5470 (nicht angemeldet)

Und wenn ich dann einschlafe und von einer Alp träume... Ist das dann ein Alptraum?

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