Die Brasilien-Premiere der Formel E wird von einer Reihe von Kollisionen und Fahrfehlern geprägt. Auch arrivierte Piloten leisten sich Patzer. Liegt es am Auto?
Formel E Brasilien
Mitch Evans (Jaguar) vor Nick Cassidy (Envision) und Sam Bird (Jaguar) beim São-Paulo-ePrix der Formel E. - FIA Formula E
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Das Wichtigste in Kürze

  • Die Formel-E-Premiere in São Paulo wird zum Triumph für die Jaguar-Teams.
  • Sébastien Buemi kritisiert nach seiner Verletzung das Strecken-Design.
  • Nick Cassidy erhöht den Druck auf den WM-Führenden Pascal Wehrlein.

Erstmals gastiert die Formel E in Brasilien – und die Premiere in São Paulo sorgt für Debatten. Die Streckenführung steht in der Kritik – ebenso die Windschatten-Taktiken der Top-Piloten. Motorsport-Insiderin Carla Welti und Nau.ch-Experte Mathias Kainz diskutieren den São-Paulo-ePrix.

Verfolgen Sie die Formel E?

Nau.ch: Jaguar feiert – das Kunden-Team Envision eingerechnet – einen Dreifachsieg in Brasilien. Was macht den Jaguar-Antrieb so überlegen?

Carla Welti: Ich glaube, das würden die anderen Teams auch gerne wissen. Die Jaguar-Teams haben in São Paulo alles auf den Punkt gebracht, hatten ein starkes Auto zur Hand. Und die Fahrer haben sich erfolgreich aus dem Chaos fern gehalten, abgesehen von Buemi. Das war aber nicht immer der Fall in dieser Saison.

Formel E Evans Cassidy
Mitch Evans (Jaguar) vor Nick Cassidy (Envision) beim São-Paulo-ePrix der Formel E. - FIA Formula E

Daher würde ich sagen: Mal schauen, wie das weiter geht. Cassidy hat mittlerweile eine gewisse Konsistenz bewiesen. Das Jaguar-Werksteam hingegen hat in der Vergangenheit oft genug schon durch Fahrer-Fehler oder strategische Fehlentscheidungen Erfolge vergeben.

Mathias Kainz: Was mich schon bei den letzten Rennen – und auch jetzt wieder – beeindruckt hat, ist die Effizienz. Klar, Vandoorne hat viel Führungsarbeit übernommen, aber auch die Jaguar-Fahrer standen lange im Wind. Und trotzdem hat die Energie am Ende ausgereicht. Da scheint der Jaguar-Antrieb der Konkurrenz in der Formel E einen Schritt voraus zu sein.

Kritik am Strecken-Design in der Formel E berechtigt?

Nau.ch: Sébastien Buemi hat sich bei seinem Unfall an der Hand verletzt – und daran dem Strecken-Design eine Mitschuld gegeben. Liegt er damit richtig?

Mathias Kainz: Das liegt grundsätzlich in der Natur eines Stadtkurses – die Kurven sind eng, und 90-Grad-Schikanen gehören dazu. Allerdings müsste die Formel E meiner Meinung nach stärker darauf achten, dass die Piloten auch sehen, was vor ihnen passiert. Im Moment sehen wir viel zu viele blinde Kurven – das war auch in Kapstadt beim Mortara-Bird-Crash ein Thema. Siehst du das ähnlich, Carla?

Carla Welti: Grundsätzlich ja, und zwar aus zwei Gründen. Enge Schikanen wie die in Kurve vier und fünf, wo Buemi den Aufprall hatte, führen zu einem Akkordeon-Effekt. Die Fahrer müssen stark abbremsen, um die Kurve korrekt fahren zu können. Wäre die Kurve schneller, würde das nicht passieren.

Zusätzlich fehlt in so einer engen Kurve komplett die Sicht darauf, was hinter der Kurve passiert. Wenn sich also zwei dort bereits in die Kiste gefahren sind, kann der Dritte das meistens erst zu spät sehen.

Nau.ch: Nach dem schwierigen Saisonstart in der Formel E wird DS Penske zunehmend stärker. Woran glaubt ihr liegt das?

Carla Welti: Pure Konsistenz und harte Arbeit. Ich sehe selbst jedes Rennwochenende hinter die Kulissen bei DS Penske. Ich weiss, dass taktisch und sinnvoll an der Leistung der Autos und des Teams gearbeitet wird.

Stoffel Vandoorne Formel E
Stoffel Vandoorne (DS Penske) beim São-Paulo-ePrix der Formel E. - FIA Formula E

Jean-Éric Vergne hat mir in einem Gespräch in São Paulo etwas Wichtiges gesagt: «Ich habe rausgefunden, dass es sich in der Formel E lohnt, sich einfach auf sich und sein Team zu konzentrieren. Denn was im Rennen passiert, ist so unvorhersehbar, es kann so vieles passieren. Da muss der Plan einfach sein, zu versuchen, das beste Auto zu haben und für jede Gelegenheit ready zu sein.

Mathias Kainz: Man sieht auch gut, dass das Team sein Auto immer besser in den Griff bekommt. Die erste Pole Position durch Vandoorne in diesem Jahr zeigt, dass die Pace grundsätzlich da ist. Der Rest ist in der Formel E eben genau das, was Vergne gesagt hat: Man muss aus sich selbst und dem Auto das Maximum rausholen und bereit sein, wenn sich eine Chance eröffnet.

«Gen3-Auto der Formel E ist eine Knacknuss»

Nau.ch: Die Fehlerquote bei den Fahrern – auch arrivierten Piloten – scheint höher zu sein als in den letzten Jahren. Könnte das am Gen3-Auto liegen?

Mathias Kainz: Die Gesamtheit der Umstellungen in dieser Saison ist einfach riesengross: Neues Auto, neue Antriebe, neue Reifen, neue Strecken – die Fahrer müssen sich an enorm viele Änderungen gewöhnen. Das trägt sicherlich zur hohen Fehlerquote bei, erklärt sie für mich aber nicht allumfassend. Ich habe schon den Eindruck, dass einige Fahrer ihr Material «überfahren», um mit den Schnellsten mitzuhalten.

Formel E Unfall
Norman Nato (Nissan) verunfallt beim São-Paulo-ePrix der Formel E. - FIA Formula E

Carla Welti: Das Gen3-Auto ist eine Knacknuss – aber ich finde, die Fahrer gehen immer geschickter damit um. Abgesehen davon gibt es aber gewisse Sicherheitsaspekte, an welchen die FIA dringend noch arbeiten muss. Es darf nicht sein, dass sich die Fahrer bei Unfällen wie Frijns in Mexiko oder jetzt Buemi so verletzen. Es braucht Änderungen an der Fahrzeugfront, um diese Kräfte abzufangen, sonst fühlt man sich im Auto nicht wohl.

«Windschatten-Taktik gehört dazu»

Nau.ch: Ein Thema bei der Brasilien-Premiere der Formel E waren die Windschatten-Taktikspielchen. Muss die Rennleitung da vielleicht eingreifen, wenn sich die Fahrer regelrecht vorbeiwinken?

Carla Welti: Wenn keine Windschatten-Taktik gespielt wird, kann mit der Reichweite der Batterie nicht hausgehalten werden. Das gehört zum Electro-Rennsport dazu und ist bei einer Rennstrecke mit Top-Speeds von über 260 km/h kaum anders möglich. Die einzige Möglichkeit, dem entgegenzuwirken ist den angedachten Lade-Pit-Stop einzuführen.

Aber: Wir zwei haben hier schon zur Genüge über Anpassungen am Gen3-Fahrzeug und Verbesserungen an Rennleitung und Organisation diskutiert. Mit all diesen Punkten hat die FIA meiner Meinung nach genug wichtige Traktanden. Die sollte man bearbeiten, bevor wir von Pit Stops reden sollten.

Formel E São Paulo
Der São-Paulo-ePrix der Formel E. - FIA Formula E

Mathias Kainz: Solange diese Windschatten-Spielchen sicher ablaufen, ist es nur ein Aspekt des Rennsports. Allerdings ist das Risiko durchaus gegeben, dass wir Szenen wie bei den DRS-Spielereien der Formel 1 in Saudi-Arabien sehen. Solange dabei nichts passiert, wunderbar. Sollte es aber mal krachen, dann muss die Rennleitung durchgreifen, damit das nicht zur Gewohnheit wird.

Wer ist der Titel-Favorit in der Formel E?

Nau.ch: Wir nähern uns mit grossen Schritten der Saison-Halbzeit. Wer ist euer Titelfavorit?

Mathias Kainz: In der aktuellen Form würde ich auf Nick Cassidy tippen – schon alleine dank seiner Konstanz. Ich glaube, die Effizienz des Jaguar-Antriebs könnte am Ende den Unterschied machen. Und weil er ein bärenstarker Qualifier ist, bleibt er meistens von den Scharmützeln im Mittelfeld verschont. Davon abgesehen halte ich die Porsche-Piloten Wehrlein und Da Costa für heisse Tipps.

Formel E Pascal Wehrlein
WM-Leader Pascal Wehrlein (Porsche) beim São-Paulo-ePrix der Formel E. - FIA Formula E

Carla Welti: Porsche hat ein unglaublich starkes Gen3-Auto gebaut und hat die Abläufe teamintern auf ein neues Level gebracht. Die Voraussetzungen sind absolut gegeben, dass Pascal Wehrlein den Titel zum Ende der Saison nach Hause bringt. Jedoch hat er seit seinem grossen Crash in Hyderabad vermehrt Fehler gemacht.

Hat er eventuell sein Selbstvertrauen etwas verloren? Wir werden es sehen. Favoriten als solches habe ich jedoch keine – möge der Schnellste gewinnen.

Nau.ch: Und zu guter Letzt: Wer war in Brasilien euer Fahrer des Tages?

Carla Welti: Bis zur Halbzeit des Rennens hätte ich Nico Müller gesagt. Endlich sah es so aus, als würde Cupra sich langsam etwas von ihrem Horror-Start erholen. Und Nico Müller konnte seine Leistung im Mittelfeld beweisen. Jedoch mussten sie sein Fahrzeug wieder einmal frühzeitig abstellen, und auch Frijns ist nur unter den letzten drei mitgefahren.

Die Performance ist bei Cupra einfach (noch) nicht da. Daher fällt meine Wahl zum Fahrer des Tages auf Nick Cassidy. Es war eine Freude, ihm bei seinem Können und der Leistung des Teams zuzuschauen.

Sam Bird Formel E
Sam Bird (Jaguar) wird beim São-Paulo-ePrix der Formel E Dritter. - FIA Formula E

Mathias Kainz: Auch, wenn Cassidy ein tolles Rennen gezeigt hat – der Fahrer des Tages war für mich Sam Bird. Von Startplatz zehn so nach vorne zu preschen und sogar noch um den Sieg zu fahren, das war spektakulär. Und es war für ihn und für das Team auch mental ungeheuer wichtig. Nach den zähen letzten Rennwochenenden tut das gut – und so ein Resultat kann eine Saison entscheidend verändern.

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