Frankreich geht die Titelverteidigung viereinhalb Jahre nach dem Triumph in Moskau angeschlagen an. Es fehlen wichtige Spieler und ein erprobtes Spielsystem.
wm 2022 kylian mbappé
Droht dem amtierenden Weltmeister Frankreich an der WM 2022 ein gleiches Debakel wie den Vorgängern? Kylian Mbappé dürfte dies verhindern wollen. - Keystone

Letztmals verteidigte Brasilien den WM-Titel erfolgreich. Das war vor genau 60 Jahren. Seither konnte der Titelhalter seinem Status selten gerecht werden. In diesem Jahrhundert wurde die Mission Titelverteidigung sogar in den meisten Fällen zum Vorrunden-Debakel: In vier von fünf Fällen verpasste der Weltmeister den Sprung in die K.o.-Runde. Nur Brasilien stiess 2006 zumindest bis in den Viertelfinal vor.

Die anderen Weltmeister der letzten 25 Jahre blamierten sich bis auf die Knochen. Frankreich scheiterte 2002 mit Traumsturm und ohne Tore, Italien schied 2010 gegen Paraguay, die Slowakei und Neuseeland aus, Spanien landete 2014 hinter der Niederlande und Chile nur auf Platz 3 und Deutschland war 2018 den Konkurrenten Schweden, Mexiko und Südkorea nicht gewachsen.

Gemeinsam haben die gestürzten Weltmeister, dass sie sich nach dem Titel schwer taten eine neue Mannschaft zusammenzustellen. Mehrheitlich wurde auf das gleiche Personal gesetzt wie vier Jahre zuvor. Eine gewisse Überheblichkeit und ein Mangel an Frische führten zum Fall. Zu erahnen war das Scheitern aber auch wenige Wochen vor dem Turnierstart nicht.

Frankreich hingegen reist mit so vielen Sorgen nach Katar, dass ein frühes Scheitern nur eine mittelgrosse Überraschung wäre. Seit dem Final in Moskau vor viereinhalb Jahren gab es mehr Tiefs als Hochs und in einem solchen Formloch steckt das Team von Didier Deschamps seit diesem Sommer. Nur ein Sieg in den letzten sechs Partien sprechen eine deutliche Sprache.

Die Probleme rund um das Nationalteam sind vielfältig und breit gefächert: Der Verbandspräsident Noël Le Graët wird der sexuellen Belästigung verdächtigt, Starstürmer Kylian Mbappé kämpft öffentlichkeitswirksam um mehr Werbeeinahmen und Mitspracherecht, Deschamps muss die baldige Ablösung durch Zinédine Zidane fürchten und dann kommen noch die zahlreichen sportlichen Unannehmlichkeiten dazu.

Deschamps hat seit dem WM-Titel versucht, seinem Team ein neues, etwas attraktiveres Gesicht zu geben. Karim Benzema wurde zurückgeholt und das System angepasst auf die Stärken der vielen fantastischen Stürmer, die ihm zur Verfügung stehen – ohne Erfolge. Die Taktik mit drei Innenverteidigern muss nun wieder einem klassischeren System weichen, das lässt sich aus seinem WM-Aufgebot herauslesen.

Alles zurück auf null heisst es. Selbst der eigentlich schon aussortierte Routinier und Stammstürmer von 2018 Olivier Giroud steht wieder im Kader. Damit ist Frankreich spielerisch in etwa so weit wie vor vier Jahren. Der so beliebte und bewunderte Deschamps mit seinen WM-Titeln als Trainer und Spieler musste einige Kritik einstecken. Er hat sich verrannt beim Versuch, neben Erfolg auch noch Spektakel zu bieten.

Zu oft ist Frankreich nicht eine geschlossene Einheit auf dem Feld. Zuletzt zeigte sich dies eindrücklich beim 0:2 in der Nations League gegen Dänemark. Die Skandinavier, die der zweite Gruppengegner der Franzosen sind, dominierten die Partie angeführt von Christian Eriksen bemerkenswert deutlich mit ihrem disziplinierten und zielsicheren Auftritt. Die beiden anderen Teams der Gruppe D, Australien und Tunesien, dürften allerdings angesichts des individuellen Klassenunterschieds auch dann viel Mühe gegen Frankreich haben, wenn sie fast perfekt aufspielen.

Trotz aller Probleme stellt der Weltmeister auch in Katar eine ausserordentliche Mannschaft. Im Sturm hat Deschamps Kylian Mbappé, Karim Benzema, Antoine Griezmann, Kingsley Coman, Ousmane Dembélé, Christopher Nkunku und Giroud zur Verfügung. Und das im Mittelfeld mit Paul Pogba und Ngolo Kanté zwei der wichtigsten Spieler fehlen, kann man in der aktuellen Situation auch positiv werten: Es zwang Frankreich zur vielleicht hilfreichen Verjüngung und sorgt für die nötige Demut. Eines ist aber klar: Sollten «les Bleus» in Katar früh scheitern, können sie nicht sagen, es habe dafür keine Anzeichen gegeben.

Ad
Ad

Mehr zum Thema:

Antoine GriezmannChristian EriksenDidier DeschampsOusmane DembéléNations LeagueKingsley ComanOlivier GiroudKylian MbappéKarim BenzemaPaul PogbaTrainerWM 2022