Arzneimangel ist nichts Neues, doch erst jetzt reagiert der Bundesrat. Das kann fatale Folgen haben. Ein Kommentar.
Die Engpässe bei Medikamenten - vor allem für die Krebstherapie - nehmen zu. (Archivbild)
Die Engpässe bei Medikamenten - vor allem für die Krebstherapie - nehmen zu. (Archivbild) - Rolf Vennenbernd/dpa
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Das Wichtigste in Kürze

  • Der Bundesrat erklärt den Medikamentenengpass zum Problem.
  • Die Erkenntnis kommt reichlich spät.
  • Hat man sich zu lange auf die «Reserve» in Form von Pflichtlagern verlassen?

Achtung, neu: Der Bundesrat stuft den Engpass bei der Versorgung mit Arzneimitteln jetzt als «problematisch» ein. Eine Taskforce soll Sofortmassnahmen prüfen. Denn es fehlt nicht an allen, aber vielen Ecken und Enden: Antibiotika, Tuberkulosemedikamente, Schmerzmittel, Adrenalin-Injektoren für Allergiker. Die Lieferschwierigkeiten bei immer mehr Medikamenten sorgten schon seit geraumer Zeit für Schlagzeilen. Aber man kennt das.

Bloss nicht hysterisch werden

Man kennt das, wenn man mal – ausnahmsweise – nicht allein im Personenkraftwagen unterwegs war. Reicht das Benzin noch? «Wir sollten zuerst noch tanken», findet Person 1, «aber dann kommen wir wohl zu spät», wendet Person 2 ein. «Aber der Tank ist fast leer», reklamiert Person 1, worauf er einen vorwurfsvollen Blick vom Beifahrer und laute Seufzer vom Rücksitz kassiert. «Wie oft haben wir dir schon erklärt, dass Rot nicht gleich leer, sondern Reservetank bedeutet», augenrollt Person 3. «Ausserdem ist der Parkplatz leicht abschüssig, wahrscheinlich stimmt die Messung nicht mal.»

Benzinstand Auto
Füllstandsanzeige in einem Auto. - Keystone

Im Gegensatz zum PKW kommt Person 3 nun in Fahrt: «Kaum zu glauben, dass ein Mann so hysterisch tun kann.» Nun rollen allerdings drei Augenpaare in seine Richtung und Person 4 findet, man könne sich ja wenigstens eine Strategie zurechtlegen. «Wozu Strategie», wehrt sich die geschasste Person 3, «es zeigt noch 26 Kilometer an, hin und zurück sind es nur etwa 20».

«Du musst halt auch nicht wie ein Aargauer fahren», hätte Person 3 jetzt besser nicht gesagt. Person 1 bleibt aber kleinlaut, die spritschonende Fahrweise sei bei ihr eine Selbstverständlichkeit. Murrend wird die Fahrt begonnen und verläuft ruhig, denn jetzt will niemand mehr etwas sagen. Auch nicht, dass spritschonende Fahrweise nicht kantons-, sondern geschlechtsspezifisch sei.

Medikamentenmangel: Wir waren gewarnt

In der Tat hat sich die Zuspitzung bei den Lieferschwierigkeiten im Arzneimittelmarkt schon längst abgezeichnet. Letzten Dezember, als auch die Krebsmittel ausgingen, einen Monat zuvor war es bei Kinder- und Parkinson-Medis besonders akut. Im Oktober 2022 verschärften sich die Versorgungsengpässe bereits, im September mussten Spitäler Arzneimittel schon selbst herstellen – weil quasi der Reservetank ebenfalls leer war.

Medikamente Spital
Der Medikamentenmangel hat sich in den letzten fünf Jahren verstärkt. Schweizer Universitätsspital versuchen, Arzneimittel zu ersetzen oder selber herzustellen. - Keystone

Einen solchen gibt es tatsächlich, in Form von Pflichtlagern, die im Notfall angezapft werden können. Deshalb beschwichtigen die Zuständigen auch laufend: Hysterie sei nicht angebracht, jeder Patient könne versorgt werden – irgendwie. Nur wird aktuell bei rund 25 Produkten das Pflichtlager bereits angezapft. Nicht so beim Epipen, der Allergikern bei anaphylaktischem Schock Adrenalin liefert: Für ihn wird auf ein Konkurrenzprodukt ausgewichen, das in lediglich 10 bis 12 Wochen geliefert wird.

Vor einem Jahr «prüfte» dennoch eine BAG-Arbeitsgruppe Massnahmen, denn die bisherigen Massnahmen «blieben wirkungslos». Denn schon Anfang März 2020 hatte man geschlussfolgert: Die Abhängigkeit von China könnte die Schweizer Engpässe noch verschärfen. Das war eine Woche nach dem ersten Schweizer Corona-Fall, den man in diese plötzliche Erkenntnis noch gar nicht einbezogen hatte.

Enea Martinelli Engpässe Medikamente
Enea Martinelli ist Chefapotheker am Spital Interlaken und Betreiber der Website drugshortage.ch. - Facebook/@enea.martinelli

Im August 2020 warnte Engpass-Experte Ennea Martinelli dann folgerichtig davor, dass Corona die Lage noch verschärfe, die Politik aber auch. Martinelli ist zwar froh, dass der Bundesrat nun Überlegungen in Auftrag gibt. Kurzfristig werde dies aber nichts nützen, frühestens in ein paar Jahren.

Wir sitzen alle im selben Auto

Auf der Rückfahrt drängt nun Person 1, endlich eine rettende Tankstelle anzusteuern, auch wenn sie Gefahr läuft, der Panikmache bezichtigt zu werden. Doch man nickt im Fond zustimmend: «Aber nicht diese, fahr weiter bis zum Küsu, dort hab ich eine Kundenkarte.» «Sollten wir nicht eine Strategie überlegen, falls das nicht reicht», meldet sich Person 4, findet aber kein Gehör. Schliesslich hat man jetzt erst grad den Reservetank angezapft.

Es kommt, wie es kommen muss: Auf der Ausserorts-Strecke beginnt der Motor zu stottern. Person 1 manövriert die Schicksalsgemeinschaft schlingernd zwischen zwei Leitpfosten zum vorläufigen Stillstand. Person 3 verkneift sich den Hinweis, dass das Strassenbord hier leicht abschüssig sei.

Leitpfosten Strassenrand ausserorts
Leitpfosten am Strassenrand, ausserorts (Symbolbild). - Keystone

Leise flucht Person 1 etwas von «Gegenwind», steigt aus und wird beinahe von einem vorbeibrausenden Töff erfasst. Die Zugluft ist kalt, also schnell wieder rein, wo guter Rat zum genau gleichen Preis zu haben ist. Person 1 und 3 werden auf Exkursion zu Küsu geschickt, Person 2 will Autostopp machen oder wenigstens einen Liter Benzin schnorren. Person 4 soll im Auto bleiben, was diese bereitwillig akzeptiert, denn nun kann sie eine mittlerweile wertlose Strategie entwickeln.

Die wahren Schuldigen an der ganzen Misere

Person 2 hat Unglück im Glück: Der Töfffahrer hat hilfsbereiterweise umgekehrt und nimmt sie mit. Beim nachfolgenden Schlittern in die Leitplanke bricht sie sich den Arm, was weniger schlimm wäre, wenn der Ambulanz nicht die Schmerzmittel ausgegangen wären. Bei Person 1 bricht infolge Zugluft eine verschleppte Tuberkulose aus und sie verstirbt infolge Antibiotika-Mangel an einer Lungenentzündung.

Die sich überschlagenden Ereignisse machen Person 3 total fertig, obwohl nicht-weiblich. Sie kommt in die Psychi, aber dort fehlen die Medikamente ebenfalls. Kein Tropfen Benzin erreicht je das gestrandete Gefährt, wo Person 4 wochenlang über Strategien brütet. Schliesslich wird es so warm, dass die Fenster geöffnet werden können.

EIne WEspe
Insektenstiche können einen allergischen Schock auslösen. - Unsplash

Ein Fehler, denn nun wird Person 4 von einem giftigen Insekt gestochen und erleidet einen anaphylaktischen Schock. Gegen solcherlei Ungemach liegt die Strategie aber griffbereit: Sofort wird ein Adrenalin-Injektor im Online-Shop bestellt und nur 10 bis 12 Wochen später geliefert. Zu spät.

Das nichteinheimische Insekt war wegen des Klimawandels aus der Mittelmeerregion zugewandert. Eine Entwicklung, verschärft durch den CO2-Ausstoss des Individualverkehrs. Das alles wäre also nicht passiert, wenn sich alle so vernünftig wie die Personen 1 bis 4 verhalten hätten: Fahrgemeinschaften bilden, spritschonendes Fahren und auf die Reserve vertrauen. Wer braucht schon eine Strategie?

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