«Berlin in 100 Kapiteln» - fast

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Deutschland,

Hildegard Knef hat das «verknautschte Bärenfell» besungen und Reinhard Meys Liebeserklärung an seine Heimatstadt beklagt «Berlin tut weh». Jetzt gibt es ein neues bissiges Loblied auf «Berlin in 100 Kapiteln...von denen leider nur 13 fertig wurden».

Cover des Buches «Berlin in 100 Kapiteln...von denen leider nur 13 fertig wurden» von Harald Martenstein und Lorenz Maroldt. Foto: -/Ullstein Verlag/dpa
Cover des Buches «Berlin in 100 Kapiteln...von denen leider nur 13 fertig wurden» von Harald Martenstein und Lorenz Maroldt. Foto: -/Ullstein Verlag/dpa - dpa-infocom GmbH

Das Wichtigste in Kürze

  • «Nur wer liebt darf kritisieren!» Dieses Credo des legendären Berliner Theaterkritikers Friedrich Luft machen sich immer wieder auch Autoren und Journalisten zu eigen, wenn sie sich mit bissigen Kommentaren, Glossen und Berichten über die Metropole Berlin öffentlich zu Wort melden.

Die neueste «Liebeserklärung» im Sinne des Vorworts zur «Feuerzangenbowle» - «Dies ist ein Loblied auf die Schule, aber es kann sein, dass sie es nicht merkt» - stammt von den Journalisten Harald Martenstein und Lorenz Maroldt, gespickt mit einer Vielzahl von Attacken und Klagen über die Stadt mit dem «Kasernenhofton» und der «organisierten Unzuständigkeit» für alle möglichen Pannen und Skandale («Berlin in 100 Kapiteln...von denen leider nur 13 fertig wurden», Ullstein Verlag).

Was bei Reinhard Mey noch liebevoll-melancholisch klingt («Berlin tut weh») und bei Hildegard Knef ein «verknautschtes Bärenfell» war, ist bei den beiden Journalisten schon wesentlich direkter und konkreter. So seien die Berliner viel unsicherer als die New Yorker und Pariser, was sie manchmal auch zu «aggressiven Angstbeissern» mache. Und viele Berliner hätten einen Freiheitsbegriff, «der vor allem die Freiheit der Gleichgesinnten und Gleichbleibenden meint». Was vielleicht auch den Erfahrungen der Eltern- und Grosselterngeneration mit Luftbrücke, Chruschtschow-Ultimatum und Mauerbau, also Insellage und Eingeschlossensein, geschuldet sein mag, möchte man hinzufügen.

«Zartgefühl ham wa nich» sei typisch Berlin, vor allem für die Berlinerin wie Marlene Dietrich, die Knef oder Katharina Thalbach, die auch stärker wirkten als ihr «männliches Gegenstück», Selbstmitleid sei ihre Sache nicht. Das aktuelle Beispiel ist wohl «Cindy aus Marzahn», die dem Buch zufolge aber in Wilmersdorf lebt, neben Charlottenburg die «Herzkammer des alten West-Berlin» mit ihren «Wilmersdorfer Witwen» aus dem legendären Rockmusical «Linie 1» des Berliner Grips-Theaters.

Neben den im Buch versammelten Pleiten, Pech und Pannen (in einer Start-up-Metropole wie Berlin wird die digitale Ausstattung von vielen als katastrophal bezeichnet) und treffenden Seitenhieben auf «Lebenslügen oder romantische Sichtweisen» finden sich auch interessante Betrachtungen über Politiker-Geschwafel («Mentalitätswechsel»). Von Plattitüden können sich allerdings auch die beiden Autoren nicht ganz frei machen («eine Stadt zum Verzweifeln und Glücklichsein», die einen nicht mehr loslässt - Reinhard Mey lässt grüssen), und natürlich wird auch der unvermeidliche Babylon-Mythos bemüht, wenn von Berlin die Rede ist.

Am schönsten sind die persönlichen Erinnerungen der beiden Autoren - Martenstein als Publizist und Kolumnist und Maroldt als Chefredakteur des Berliner «Tagesspiegels» - über ihren Weg nach Berlin und ihre ersten Erfahrungen in der seltsamen Stadt, die offenbar nichts für «zarte Gemüter» ist, eigentlich wie New York oder London auch. Für Martenstein war West-Berlin «ein Ort, wie es ihn in Deutschland nie zuvor gegeben hat und wohl auch nie wieder geben wird», und der tagsüber auch «ziemlich deprimierend» ausgesehen habe. Einschusslöcher aus den letzten Kriegstagen an den Fassaden waren noch bis in den 60er Jahren überall zu sehen, im Ostteil der Stadt noch weit über diese Zeit hinaus, und «es gab auffällig viele alte Frauen, Kriegerwitwen, die riesige Altbauwohnungen besetzt hielten» (im Westen).

Und da gab es die «Bundeswehrflüchtlinge» - wegen des alliierten Vier-Mächte-Status der Stadt gab es in West-Berlin keine Wehrpflicht, anders als im Osten, der «Hauptstadt der DDR», wie sich dieser Teil Berlins offiziell nannte. Da gab es die «Dauerstudierenden» an der Freien Universität Berlin (FU) mit dem Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft, «international anerkannt für die Spezialisierung auf angewandte Revolutionswissenschaften», wie es im Buch mit einem ironischen Seitenblick auf eines der zentralen FU-Institute heisst, das in der rebellischen 68er Protestbewegung eine zentrale Rolle spielte. Hier demonstrierte Rudi Dutschke mit anderen «Genossen» vom «Sozialistischen Deutschen Studentenbund» (SDS) gegen den «Muff unter den Talaren», für bessere Studienbedingungen und gegen den Vietnamkrieg, mit «Go-ins» und «Sit-ins» und Institutsbesetzungen.

Das neue Berlin-Buch hat viele Vorgänger und ist eigentlich kein neues «muss», aber ein Lesevergnügen ist es allemal in seiner humorvoll-bissigen Art. Das berühmteste Vorgänger-Buch ist schon über 100 Jahre alt und wird von den neuen Autoren auch zitiert, Karl Schefflers «Berlin. Ein Stadtschicksal» von 1910. «Es übertrifft an Hass und Häme so ziemlich alles, was heutige Autoren, zum Beispiel wir, über Berlin zu schreiben wagen.» So schrieb Scheffler zum Beispiel, es erscheine einem manchmal, «als bestände die ganze männliche Einwohnerschaft nur aus Bauunternehmern und deren Gehilfen». Zudem habe eine «unendlich dilettantische und fahrige Kommunalpolitik» nie «frei und gross gewollt, sondern immer nur gemusst». Aber, so fügen die heutigen Autoren hinzu, «Scheffler lebte trotzdem gern hier», so wie sie eben auch.

Harald Martenstein/Lorenz Maroldt: Berlin in 100 Kapiteln...von denen leider nur 13 fertig wurden, Ullstein Verlag, Berlin, 288 Seiten, 19,99 Euro, ISBN 978-3-550-20010-6.

© dpa-infocom, dpa:200630-99-617406/2

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