Das Glarner Fabrikgesetz 1864 und eine Abstimmung vor 143 Jahren weisen interessante Parallelen zur KVI-Abstimmung auf. Ein Gastbeitrag von Evelyne Schmid.
Evelyne Schmid, Professorin für internationales Recht.
Evelyne Schmid, Professorin für internationales Recht an der Universität Lausanne. - zVg
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Das Wichtigste in Kürze

  • Am 29. November stimmt die Schweiz über die Konzern-Initiative (KVI) ab.
  • Evelyne Schmid ist Professorin für internationales Recht an der Universität Lausanne.
  • Gemäss der Rechtsprofessorin verbreiten die Gegner unrichtige Angaben zur KVI.

Während es winterlich kühl wird, tobt in der Schweiz ein heisser Abstimmungskampf. Das Stimmvolk ist an die Urne gerufen, um über Fragen wie die Bekämpfung von Kinderarbeit und menschenwürdigere Arbeitsbedingungen zu entscheiden.

Grossunternehmen sollen unter anderem mithilfe des Haftpflichtrechts zu verantwortungsvollem Wirtschaften bewegt werden.

Banner zur Konzern-Initiative.
Schmid: «Es tobt ein heisser Abstimmungskampf.» - keystone

Grosse Wirtschaftsverbände bekämpfen das Anliegen entschieden. Gönnerhaft sprechen sie von «an sich sehr löblichen und achtenswerten Motiven» die hinter dem Anliegen stünden und malen gleichzeitig den Teufel an die Wand.

Da «höre jede Konkurrenzfähigkeit auf», und man fühle sich als Wirtschaftsvertreter attackiert, geradezu «vogelfrei». Nationalräte hingegen zitieren die bereits bestehenden Regelungen in Frankreich und halten fest: «Der Staat darf nicht untätig zusehen, wenn er nicht der Mitschuldige bei solchem Missbrauch sein will.»

Sie werben mit dem Argument gleich langer Spiesse im Wettbewerb für die Regulierung. Diejenigen Unternehmen, die schon jetzt anständig wirtschafteten, könnten nur davon profitieren, wenn dieselben Standards für alle gelten würden.

Der Ständerat ist kritischer. Doch der Bundesrat kämpft energisch für diese gesetzlichen Regeln für Unternehmensverantwortung ... Der Bundesrat?

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1910 grosses Lob bei Revision des Fabrikgesetzes

Wir sprechen hier offensichtlich nicht vom Jahr 2020, sondern vom Oktober 1877. Das Eidgenössische Fabrikgesetz steht zur Abstimmung. Der Schweizerische Handels- und Industrieverein, der Vorläufer der heutigen Economiesuisse, hat zusammen mit den Textilfabrikaten das Referendum ergriffen gegen ein Gesetz, welches Kinder unter 14 Jahren von den Fabriken fernhalten, Mütter besser schützen und allen Arbeitnehmenden maximal 11-Stunden-Tage zumuten will.

Fabrik um 1900.
Muenchensteiner Werk der Brown Boveri Company (BBC) um 1900. - keystone

Nach heftigem Abstimmungskampf sagen am 21. Oktober 1877 51.5 Prozent des Volkes und 14 Kantone Ja zu diesem Schweizer Meilenstein.

Als sich der Bundesrat 1910 bei der Revision des Fabrikgesetzes rückblickend selber ein dickes Lob für diesen Schritt von 1877 ausspricht, ja diesen gar eine «ebenso mutvolle, wie weise Tat» bejubelt, hat er jegliches Recht dazu.

Und heute?

Bei der Konzernverantwortungsinitiative geht es weniger «mutig», aber nicht minder «weise» zur Sache. Die Konzern-Initiative schlägt keinen internationalen Alleingang vor.

Wir entscheiden vielmehr darüber, ob wir – wie andere europäische Länder auch – eine Regel für Menschenrechte und Umwelt im globalen Wirtschaften haben wollen. Die Schweiz ist einer der grössten Standorte des globalen Rohstoffhandels und wir haben nun die Gelegenheit, eine der Schweiz angepasste Lösung zur Umsetzung der Uno-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte anzunehmen und dem Parlament den Auftrag zu erteilen, diese Lösung in einem detaillierten Gesetz so zu präzisieren, dass alle Unternehmen wissen, welche Regeln gelten und KMU ausreichend geschützt sind.

Debatte wird fernab vom Initiativtext geführt

Wie im Herbst 1877 bekämpfen auch heute Wirtschaftsverbände die Vorlage und zeichnen ein Potpourri an Schreckensszenarien. Es scheint mir insbesondere problematisch für die demokratische Meinungsbildung, dass aktuell zahlreiche Stellungnahmen gegen die Initiative teilweise klare inhaltliche Unrichtigkeiten aufweisen.

Man kann für oder gegen die Initiative sein, aber wir verlieren alle, wenn die Debatte fernab vom Initiativtext geführt wird.

Flyer zur Konzern-Initiative.
Flyer für ein Ja zur Konzern-Initiative. - keystone

So ist es zum Beispiel eindeutig falsch, dass Unternehmen mit Annahme der Initiative für alles haftbar gemacht werden könnten, was irgendwo in ihrer Lieferkette schiefgehen kann. Unternehmen sollen in sämtlichen Geschäftsbeziehungen sorgfältig agieren und vermeiden, dass sie Schaden anrichten.

Die Haftung ist in einem anderen Teil des Initiativtextes geregelt: Sie gilt nur dann, wo die Opfer beweisen können, dass eine konzernrelevante Kontrolle vorliegt, dass also das Unternehmen bestimmenden Einfluss über das Geschehen hat.

Wie bei der im Schweizer Recht längst verankerten Geschäftsherrenhaftung gibt es dann noch eine Entlastungsmöglichkeit: Falls es den Geschädigten gelingt, den Schaden, die Widerrechtlichkeit, die Kausalität und die Kontrolle durch den Konzern zu beweisen (was kaum häufig der Fall sein wird), kann sich das Unternehmen trotzdem aus der Haftung befreien, wenn es zeigen kann, dass es sorgfältig gehandelt hat. Das ist keine Interpretationssache, sondern ist im Initiativtext schwarz auf weiss festgehalten.

Der Bundesrat hat jahrelang zugewartet, die Uno-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte in die schweizerische Gesetzgebung einfliessen zu lassen, während in anderen Ländern ähnlich gelagerte und zum Teil weitreichendere Gesetze gelten.

In der Schweiz gäbe es auch nach Annahme der Initiative weiterhin sehr hohe Hürden für Opfer, vor einem Gericht eine erfolgsversprechende Klage einzureichen.

Ein Fabrikgesetz fürs 21. Jahrhundert

Das Fabrikgesetz von 1877 – und auch sein Vorgänger im Kanton Glarus von 1864 – war da wesentlich ambitionierter. Es scheint als habe die Schweiz damals eine Vorreiterrolle geradezu angestrebt.

Der Bundesrat war 1910 merklich stolz auf den Pioniergeist seiner Vorgänger: «Obschon in hohem Masse auf den Export industrieller Erzeugnisse angewiesen, wagte es unser kleines Land, sich mit einer tief in die Produktionsverhältnisse eingreifenden Fabrikgesetzgebung an die Spitze der Staaten zu stellen. Vieles hat die ausländische Gesetzgebung nachgeholt, doch nicht derart, dass die unsrige auf der ganzen Linie erreicht oder überflügelt worden wäre.»

Heute sind wir abermals in der Situation über grundlegende Regeln zum Schutz der Menschenrechte in der Wirtschaft zu entscheiden. Die Wirtschaft hat sich globalisiert und folgerichtig braucht es heute ein «Fabrikgesetz fürs 21. Jahrhundert», das Schweizer Konzerne angemessen in die Pflicht nimmt, unabhängig davon, in welchem Land ihre Fabriken stehen.

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