Experte: Wolodymyr Selenskyj hat «post-sowjetischen Machtreflex»

Riccardo Schmidlin
Riccardo Schmidlin

Ukraine,

Weil Wolodymyr Selenskyj die Antikorruptionsbehörden beschneidet, hagelt es Kritik – auch von der EU. Zwei Experten ordnen die Proteste bei Nau.ch ein.

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In der Ukraine gehen diese Woche Tausende gegen Selenskyj auf die Strasse. - X

Das Wichtigste in Kürze

  • Wolodymyr Selenskyj schränkt die Antikorruptionsbehörden ein und gibt sich mehr Macht.
  • Gegen das neue Gesetz wird protestiert. Kritik kommt auch von der Opposition und der EU.
  • Ein Osteuropa-Experte sagt bei Nau.ch: «Selenskyj will die Proteste aussitzen.»
  • Sogar von einem «post-sowjetischen Machtreflex» ist die Rede.

Lange stand sein Volk hinter ihm, nun beginnt die Unterstützung für den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zu bröckeln. Ihm werden autoritäre Züge vorgeworfen.

Diese Woche zogen am Dienstag und am Mittwoch Tausende gegen seine Pläne auf die Strasse. Es ist der grösste Protest seit Kriegsbeginn.

Auslöser für die Proteste: Mit einem neuen Gesetz beschnitt Selenskyj die Befugnisse der beiden Antikorruptionsbehörden Nabu und Sapo. Er wolle sie damit von «russischem Einfluss» befreien.

Wolodymyr Selenskyj
Wolodymyr Selenskyj erntet für sein neues Antikorruptionsgesetz viel Kritik. - X

Bislang waren die beiden Behörden unabhängig von der restlichen Justiz. Neu aber kann die Generalstaatsanwaltschaft bei Fällen intervenieren und Fälle abziehen.

Wolodymyr Selenskyj sichert sich mit neuem Gesetz mehr Macht

Osteuropa-Experte Ulrich Schmid ordnet gegenüber Nau.ch ein: «Das neue Gesetz bedeutet eine Zentralisierung der Macht beim Präsidenten. Selenskyj kann so mehr Einfluss auf die Tätigkeit der beiden Antikorruptionsbehörden nehmen.»

Eine Einflussnahme bei den Antikorruptionsverfahren sei zwar möglich, «aber wahrscheinlich nicht das ausschlaggebende Moment».

Gleich klingt es bei Ukraine-Experte Nicolas Hayoz. «Das sind fadenscheinige Argumente. Als ob russische Geheimdienste sich davon abhalten lassen würden, ukrainische offizielle Behörden zu unterwandern, wenn sie von der Generalstaatsanwalt kontrolliert werden.»

Nicolas Hayoz
Nicolas Hayoz, emeritierter Professor für Politikwissenschaft der Universität Freiburg. - zvg

Der Entscheid habe einen anderen Grund. Nämlich seien Korruptionsvorwürfe an Personen aus der Elite sowie aus Selenskyjs Umfeld gerichtet. Darunter auch an einen Freund von Selenskyj.

Hayoz mahnt: «Selenskyi hat einmal mehr gezeigt, dass er trotz seinem Status als erfolgreicher Kriegspräsident, einen typisch post-sowjetischen Machtreflex hat. Und dass er Kritik gegen seinen Kurs schlecht erträgt.»

Auch die Opposition und Aktivisten werfen Selenskyj vor, den Kampf gegen die Korruption massiv zu schwächen und Vertraute schützen zu wollen. Sie wollen das Gesetz nun vor dem Verfassungsgericht anfechten.

Kritik an den Plänen der Ukraine kommt auch von der EU. Die EU-Erweiterungskommissarin Marta Kos sprach von einem «ernsthaften Rückschritt» für die EU-Beitrittsverhandlungen. Der Kampf gegen die Korruption sei für einen Beitritt zentral.

Angesichts heftiger Kritik an einem Antikorruptionsgesetz hat Ukraines Präsident Selenskyj Vertreter aller zuständigen Stellen zu einem Gespräch eingeladen.

«Sonst provoziert Selenskyj weitere Revolution»

Man wird sehen, ob und wie Wolodymyr Selenskyj die Unabhängigkeit der Antikorruptionsbehörden wieder etabliert.

Hayoz gibt aber zu bedenken: «Er hat jedenfalls schon viel Kredit und Vertrauen verspielt. Die EU wird auf alle Fälle den Druck verstärken. Und die Zivilgesellschaft wird sich bestärkt fühlen, die Proteste zu verstärken.»

Und er findet deutliche Worte: «Selenskyj ist das Aushängeschild einer halbwegs demokratischen Ukraine, die sich verteidigt gegen Russland. Er kann nicht im Namen des Kampfes gegen Russland demokratische Errungenschaften in Frage stellen. Er wird sonst eine weitere Maidan-Revolution provozieren.»

ukraine
Beginn der Maidan-Proteste: Ukrainische Bürgerinnen und Bürger singen im November 2013 auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew die Nationalhsymne. - dpa

Die Maidan-Revolution 2013/14 richtete sich gegen das autoritäre Regime des damaligen ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch. Dieser wandte sich von Europa ab und wandte sich Russland zu.

Hayoz findet es «unglaublich», wie schnell das ukrainische Parlament das neue Gesetz durchgewunken hat. «Auch hier zeigt sich einmal mehr der ‹alte Machtreflex›: Politiker, die ohne Rückgrat die Politik des Präsidenten absegnen.»

Und: «Man sieht so oder so, dass eine allzu mächtige Präsidialverwaltung dazu tendiert, eine autoritäre Politik zu verfolgen. Gerade in Kriegszeiten, wo auch der Druck von aussen Reformen durchzuführen, schwächer ist.»

Was droht Selenskyj nun?

Ulrich Schmid sagt: «Bisher hat sich Selenskyj von den Protesten nicht beeindrucken lassen.» Schliesslich sei das Gesetz im Parlament «sehr schnell» beraten und von Selenskyj «umgehend unterzeichnet» worden.

Wolodymyr Selenskyj will «Proteste aussitzen»

«Offensichtlich rechnete er damit, dass er die Öffentlichkeit vor vollendete Tatsachen stellen kann», sagt der Experte. «Im Moment sieht es so aus, als wolle Selenskyj die Proteste aussitzen.»

Klar sei aber: Ein Rücktritt stehe derzeit nicht zur Debatte.

Werden die Proteste Wolodymyr Selenskyj langfristig schaden?

Was bedeutet das für den weiteren Verlauf im Ukraine-Krieg? «Die aktuelle Situation spielt Russland in die Hände», betont Schmid.

«Eines der zentralen russischen Destabilisierungsnarrative zielt auf die angeblich unsorgfältige Verwendung der westlichen Finanz- und Militärhilfen für die Ukraine.»

Entsprechende russische Propaganda-Angriffe gegen die Ukraine würden sich dadurch nun verstärken.

Protest muss auch während Ukraine-Krieg möglich sein

Nicolas Hayoz ergänzt: «Für den Krieg bedeutet das vorderhand nicht viel.» Schliesslich seien die EU-Hilfen nicht an Reformen gekoppelt.

«Aber der EU-Integrationsprozess der Ukraine kann sehr wohl beeinflusst werden», sagt er. Auch in Kriegszeiten müsse der demokratische Prozess weiter verfolgt werden.

«Das unterscheidet die Ukraine von einem autoritären Russland», so Hayoz. «Der Protest gegen eine antidemokratische Politik muss möglich sein, ohne dass der Kampf gegen Russland beeinträchtigt wird.»

Kommentare

User #2802 (nicht angemeldet)

SPlinkos haben auch post-marxistischen Reflex

User #6441 (nicht angemeldet)

Die EU ist lustig, über Selenskjy motzen, aber selber Zensur und Diktatur etablieren.

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