Mit mehr als 40.000 täglichen Neuinfektionen steckt Russland so tief in der Pandemie wie nie zuvor. Mit arbeitsfreien Tagen will Präsident Putin die Situation in den Griff bekommen.
Eine Reinigungskraft steht in einem geschlossenen Einkaufszentrum und reinigt eine Säule. Mit neuen Corona-Höchstständen in Russland hat die Regierung des Landes zur Eindämmung der Pandemie einen Teillockdown und arbeitsfrei verordnet. Foto: Pavel Golovkin/AP/dpa
Eine Reinigungskraft steht in einem geschlossenen Einkaufszentrum und reinigt eine Säule. Mit neuen Corona-Höchstständen in Russland hat die Regierung des Landes zur Eindämmung der Pandemie einen Teillockdown und arbeitsfrei verordnet. Foto: Pavel Golovkin/AP/dpa - dpa-infocom GmbH
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Das Wichtigste in Kürze

  • Angesichts dramatisch hoher Corona-Zahlen ist die Kommunikation von Schutzmassnahmen in Russland mal wieder zur Chefsache geworden.

Und der Chef wirkt genervt. Als sich Präsident Wladimir Putin kürzlich an die Bevölkerung wendet, seufzt er erst einmal tief.

«Liebe Freunde», sagt Putin - und erinnert seine Landsleute daran, dass sie sich doch bitte sofort in Selbstisolation begeben mögen, wenn sie Kontakt mit einem Infizierten hatten. Dann stimmt er dem Vorschlag der Regierung zu: Mindestens eine Woche arbeitsfrei bis zum 7. November verordnet Putin dem ganzen Land.

Während manche europäische Länder mittlerweile Impfquoten von mehr als 70 Prozent aufweisen, wird Russland so hart von der Pandemie getroffen wie nie zuvor. Ständig gibt es neue Höchststände. Zum wiederholten Mal infolge registrierten die Behörden zum Wochenbeginn mehr als 40.000 Neuinfektionen und mehr als 1000 Tote binnen 24 Stunden. «So etwas gab es noch nie», sagt Putin. Die Krankenhäuser sind vielerorts am Limit, Bestatter überarbeitet. Das Statistikamt Rosstat meldet einen massiven Bevölkerungsschwund.

Trotz fünf eigener Impfstoffe

In diesem Desaster versinkt nun ausgerechnet ein Land, das gleich über fünf eigene Vakzine verfügt. Ein Land, das nicht nur den ersten Impfstoff der Welt zugelassen hat, sondern auch den «weltbesten», wie Putin Sputnik V einst anpries. Doch bis jetzt ist erst rund ein Drittel der 146 Millionen Russen vollständig geimpft.

Auch nach monatelanger Prüfung ist Sputnik V bislang weder von der Europäischen Arzneimittelagentur EMA noch von der Weltgesundheitsorganisation WHO zugelassen. Viele sind skeptisch. «Das ist mein Körper, da entscheide ich selber, was reinkommt», sagt ein Moskauer Handwerker. Eine ältere Bürgerin meint, dass sie sich etwa den Biontech/Pfizer-Impfstoff, der in Russland nicht zugelassen ist, gerne spritzen lassen würde - «aber doch bitte nicht Sputnik».

Vertrauen fehlt

Unterdessen mangelt es im grössten Land der Erde wahrlich nicht an Impfwerbung - ob nun auf Strassenplakaten oder im Staatsfernsehen. Auch der bekannte Arzt Dennis Prozenko appelliert kürzlich an die Russen, sich immunisieren zu lassen. Doch viele Menschen vertrauen den Ansagen von oben nicht.

Das liege zum einen an den offiziellen Zahlen, die die Realität nicht abbildeten, sagt der Statistiker Alexej Rakscha in einem Interview. Zudem hätten hochrangige Politiker ihre Vorbildfunktion zu oft schleifen lassen - etwa beim Maske-Tragen. Putin beispielsweise, der angesichts der aktuellen Lage weder zum G20-Gipfel noch zur Weltklimakonferenz reiste, ist nie mit einem Mund-Nase-Schutz zu sehen. Einfachen Bürgern hingegen droht eine Strafe, wenn sie ohne Maske erwischt werden.

Und schliesslich widersprechen sich Politiker und Beamte zu oft in ihren Empfehlungen, wie Rakscha bemängelt. «Was ist Wahrheit, was ist Lüge - das Volk ist mittlerweile total verwirrt. Und all das ist leider auf sehr fruchtbaren Boden einer postsozialistischen, postsowjetischen Anti-Impfeinstellung gefallen.»

Putin will der Gute sein

Auch die Politologin Tatjana Stanowaja kritisiert, Putin habe sich weit vom Volk entfernt und wälze Corona-Entscheidungen oft auf Regionen und Regierung ab. Der Präsident wolle vor seiner Bevölkerung als der Gute dastehen, schreibt sie bei Telegram - «auf Kosten des Lebens dieser Bevölkerung».

Und so wirkt das russische Corona-Management oft uneinheitlich und chaotisch. Mal werden in Moskau Autos und Wohnungen verlost, um Menschen zur Impfung zu bewegen. Dann wieder feiern Hunderte dicht gedrängt und ohne Masken im Sommer die Fussball-Europameisterschaft in St. Petersburg. Mal heisst es, Russland habe die Pandemie besser überstanden als andere Länder - alles sei unter Kontrolle. Dann wieder lassen die desaströsen Fallzahlen an dieser Darstellung zumindest erhebliche Zweifel aufkommen.

In Moskau und St. Petersburg, wo die Lage besonders schlimm ist, hat nun parallel zur arbeitsfreien Zeit ein Teil-Lockdown begonnen, der aber offiziell nicht so heisst. Bis auf einige Ausnahmen sind nur noch Supermärkte und Apotheken geöffnet. Wie es nach der Woche weitergehen wird, ist unklar. Sollten in Restaurants oder im öffentlichen Nahverkehr QR-Codes als Impf- und Genesungsnachweise eingeführt werden, hätten unter anderem Ausländer ein Problem: Viele von ihnen sind nicht im russischen Gesundheitssystem registriert und können deshalb nicht ohne Weiteres an einen Code kommen.

Keine Impfpflicht

In Bezug auf die Möglichkeit einer verpflichtenden Impfung - in vielen Regionen gibt es die für bestimmte Berufsgruppen ohnehin schon - sei bislang keine Entscheidung getroffen worden, sagt Kremlsprecher Dmitri Peskow. Kurz zuvor hat Putin sich noch dagegen ausgesprochen. Begründung: «Jede auferlegte Entscheidung kann umgangen werden. Dann werden sie sich die Zertifikate kaufen.»

Neben klaren Ansagen fehlt vor allem ein öffentlicher Diskurs über Corona-Beschränkungen, der diese für die Bürger nachvollziehbarer machen könnte. Und so scheint es für viele mittlerweile fast schon zum guten Ton zu gehören, sich um Regelungen herum zu mogeln. Die obligatorische Maske in der Metro wird zwar getragen - aber oft hängt sie eben unter dem Kinn. Nach Verkündung der arbeitsfreien Zeit, die eigentlich im engsten Familienkreis verbracht werden sollte, berichten Medien unter Berufung auf Ticketportale über einen Anstieg an Flugbuchungen.

Immerhin: Die Aussicht auf möglicherweise erforderliche QR-Codes in weiten Teilen des öffentlichen Lebens hat zu einem Anstieg des Impftempos geführt. Das habe sich in den vergangenen Tagen vervierfacht, sagt Gesundheitsminister Michail Muraschko. Doch auch hier lässt das nächste Problem nicht lange auf sich warten: Aus mehreren Regionen gibt es nun Berichte über einen Mangel an Sputnik Light - der Version des Sputnik-Präparats, bei der zumindest nur eine Injektion für den Erhalt eines Impfnachweises nötig ist.

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