Kiew braucht im Ukraine-Krieg dringend Soldaten – zusätzliche Aufgebote sind jedoch unpopulär. Es ist ein Balanceakt für den Präsidenten Wolodymyr Selenskyj.
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Wolodymyr Selenskyj ist auf neue Soldaten angewiesen, muss mit Mobilisierungen aber aufpassen. - keystone

Das Wichtigste in Kürze

  • Die Ukraine senkt das Alter für die Einberufung von Reservisten von 27 auf 25 Jahre.
  • Dadurch könnten mehrere 100'000 jüngere Soldaten zusätzlich aufgeboten werden.
  • Als Akt der Verzweiflung sehen Experten die Massnahme nicht. Aber als «überfällig».
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Im Ukraine-Krieg ist nach wie vor kein Ende in Sicht. Der andauernde Konflikt braucht viele Ressourcen – sowohl materiell als auch personell. Immer wieder wird darüber berichtet, dass sowohl Kiew als auch Moskau die Soldaten ausgehen.

Nun reagiert der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj: Er hat nach langem Zögern zugestimmt, das Reservisten-Einberufungsalter von 27 auf 25 Jahre zu senken. So sollen zwei zusätzliche Jahrgänge für den Krieg zur Verfügung stehen.

Ist das ein Akt der Verzweiflung? Nau.ch hat bei Experten nachgefragt.

«Niederschwellige» und «überfällige» Massnahme

Die Massnahme lässt sich unter anderem mit Kiews Zielen im Ukraine-Krieg erklären. Das sagt Ulrich Schmid von der Universität St. Gallen (HSG) gegenüber Nau.ch.

«Das ukrainische Kriegsziel besteht ja in einer Rückeroberung der von Russland besetzten Gebiete», so der Osteuropa-Experte. Das Problem: Ein solcher Angriffskrieg braucht viel mehr Soldaten als ein reiner Verteidigungskrieg.

Das Reservealter sei aktuell wohl «die einfachste Methode», um neue Soldaten einzuberufen, sagt Schmid. Er spricht von einer «relativ niederschwelligen Massnahme».

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Der Ukraine-Krieg zieht sich weiterhin in die Länge.
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Kiew gehen dabei zunehmend die Soldaten aus.
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Aber auch die Russen haben solche Probleme.

Nicolas Hayoz, Osteuropa-Experte an der Universität Freiburg, sieht darin sogar eine «längst überfällige» Entscheidung. Er führt aus: «Selenskyj hat zu lange damit zugewartet. Obwohl seit vergangenem Jahr klar war, dass die Ukraine neben Munition vor allem mehr Soldaten braucht.»

Glauben Sie an ein baldiges Ende des Ukraine-Kriegs?

Hayoz würde entsprechend im Falle von Wolodymyr Selenskyj nicht von einem Akt der Verzweiflung sprechen. Es sei eher «eine späte Einsicht in die Notwendigkeit eines solchen Entscheides».

Das zögerliche Vorgehen Selenskyjs ist sicherlich nicht ganz freiwillig – sondern hat auch mit dem politischen System zu tun. Man muss laut Hayoz nämlich bedenken: Ein autoritäres Regime wie in Wladimir Putins Russland kann ohne grosse Diskussionen viel einfacher mobilisieren.

Auswirkungen auf Ukraine-Krieg unklar

Wie viele Soldaten die Senkung des Alters der Ukraine bringen wird, ist unklar. Schmid erklärt, dass diese lediglich eine Voraussetzung und noch nicht eine Einberufung an sich sei. Klar ist in jedem Fall: «Wenn mehr Soldaten eingezogen werden, wird zumindest ein Problem in dieser kritischen Situation angegangen.»

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Ukrainische Soldaten im Krieg. Kiew braucht mehr Soldaten. - keystone

Hayoz kann ebenfalls keine genaue Zahl nennen. Sie könnte sich aber im sechsstelligen Bereich befinden. Anderen Medienberichten zufolge seien anhand der Geburtenzahlen theoretisch 400'000 neue Soldaten für den Kriegsdienst einberufbar.

Aufgrund dieser Unklarheit ist aber kaum abzusehen, was die zusätzliche Mobilisierung letztlich für den Ukraine-Krieg bedeutet. Zumal dieser nicht nur von der Zahl der Soldaten abhängt, sondern beispielsweise auch von Waffen- und Munitionslieferungen.

Mobilisierung ist «Dilemma», hat aber auch Positives

Die Einberufung zusätzlicher Soldaten ist für Selenskyj – ähnlich wie für Wladimir Putin – ein Balanceakt. «Er ist dringend auf eine grosse Zahl neuer Soldaten angewiesen. Allerdings weiss er, dass eine solche Mobilisierung in der Gesellschaft sehr unpopulär ist», führt Schmid aus.

Der Experte spricht von einem «Dilemma». Zuletzt ist Selenskyjs Popularität Umfragen zufolge ohnehin bereits gesunken.

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Für Wolodymyr Selenskyj ist die Mobilisierung von Soldaten für den Ukraine-Krieg ein schmaler Grat. - dpa

Hayoz sieht auch die positiven Seiten einer solchen Mobilisierung. Denn wenn es mehr Soldaten gebe, könnten die aktuell kämpfenden beispielsweise vielleicht für eine gewisse Zeit zu den Familien zurückkehren. Der Experte sagt: «Wenn das alles richtig kommuniziert wird, dann wird es die Bevölkerung, die hinter der Armee steht, akzeptieren.»

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