Mit dem Vormarsch der Islamisten wird auch die Abschiebepraxis der europäischen Staaten in Frage gestellt. US-Präsident Biden appelliert indes an die Afghanen, selbst um ihren Staat zu kämpfen.
Taliban-Kämpfer posieren nach der Eroberung in in der Stadt Farah. Foto: Mohammad Asif Khan/AP/dpa
Taliban-Kämpfer posieren nach der Eroberung in in der Stadt Farah. Foto: Mohammad Asif Khan/AP/dpa - dpa-infocom GmbH
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Das Wichtigste in Kürze

  • Die EU-Botschafter in Afghanistan raten angesichts des schnellen Vormarsches der Taliban von Abschiebungen in das Krisenland vorerst ab.

Wegen des sich verschärfenden Konflikts, der prekären Sicherheits- und Menschenrechtslage sowie des Mangels an sicheren Räumen im Land werde empfohlen, eine Aussetzung von Zwangsrückführungen nach Afghanistan zu erwägen, heisst es in einem an die EU-Staaten versendeten internen Bericht der EU-Missionschefs in Kabul. Gleichzeitig bestätigte die EU-Kommission den Eingang eines Briefes, in dem sich die Innenminister Deutschlands und fünf anderer EU-Staaten gegen die Aussetzung von Abschiebungen aussprechen. Der Brief liegt der Deutschen Presse-Agentur vor.

Die militant-islamistischen Taliban nahmen derweil weitere kleinere Provinzhauptstädte ein und rücken zunehmend auf die Grossstadt Masar-i-Scharif vor. Dabei werden immer mehr Zivilisten Opfer der sich ausbreitenden Kämpfe.

Abschiebungen umstritten

Abschiebungen nach Afghanistan sind wegen der Sicherheitslage umstritten. Seit Beginn des Abzugs der internationalen Truppen haben die Taliban grosse Geländegewinne erzielt. Mittlerweile beherrschen sie gut die Hälfte der Bezirke des Landes, mehrere Grenzübergänge und Teile wichtiger Überlandstrassen. Seit Freitag eroberten sie sieben Provinzhauptstädte, darunter die Grossstadt Kundus.

Die Empfehlung der EU-Botschafter in Kabul ist ungewöhnlich. Migrationsfragen liegen eigentlich in der Kompetenz der Mitgliedsstaaten. Die Missionschefs vor Ort können bestimmte Themen analysieren und hinterfragen, aber nicht in Hauptstadtentscheidungen eingreifen. In Kabul betreiben noch acht EU-Länder Botschaften, darunter Deutschland. Alle Missionschefs haben den Bericht unterzeichnet.

Die sechs Innenminister fordern in ihrem Brief dagegen die EU-Kommission auf, im Dialog mit Afghanistan Rücksendungen von Afghanen weiter voranzubringen. Eine Aussetzung der Abschiebungen würde mehr afghanische Bürger dazu motivieren, in die EU zu migrieren.

Deutschland hält an Abschiebungen fest

In Deutschland hat sich die Debatte über einen möglichen Abschiebestopp zuletzt verschärft. Anfang August war ein geplanter Abschiebeflug abgesagt worden. Die Bundesregierung hält aber an den Abschiebungen fest. Aus dem Bundesinnenministerium hiess es, der abgesagte Flug solle möglichst bald nachgeholt werden.

Amnesty International und 25 weitere Organisationen forderten am Dienstag von Deutschland einen sofortigen Abschiebestopp. «Auch Deutschland darf die Augen vor der sich immer weiter verschlechternden Lage in Afghanistan nicht verschliessen und muss alle Abschiebungen einstellen», heisst es in einer gemeinsamen Erklärung. «Rechtsstaat heisst, dass menschenrechtliche Prinzipien eingehalten werden. Sie dürfen auch nicht in einem Wahlkampf zur Verhandlung gestellt werden.»

Biden: Afghanen müssten selbst kämpfen

Nach Ansicht von US-Präsident Joe Biden ist der Kampf gegen die militant-islamistischen Taliban nunmehr Sache der Afghanen. Angesichts des jüngsten Vormarschs der Islamisten sagte Biden im Weissen Haus, die Afghanen müssten nun «selbst kämpfen, um ihren Staat kämpfen». Ihre Streitkräfte seien den Taliban militärisch überlegen, auch in Bezug auf die Truppenstärke. «Aber sie müssen auch kämpfen wollen», so Biden.

Der US-Präsident appellierte auch an die politische Führung in Kabul, an einem Strang zu ziehen. Wörtlich sagte er: «Ich glaube, sie beginnen zu verstehen, dass sie an der Spitze politisch zusammenkommen müssen.» Biden versprach, die USA würden die afghanischen Sicherheitskräfte weiterhin finanziell und militärisch unterstützen. Er werde jeden Tag über die Lage unterrichtet.

Mit Blick auf den von ihm angeordneten Abzug der US-Soldatinnen und Soldaten fügte der Präsident hinzu: «Aber ich bedauere meine Entscheidung nicht.» Zum Zeitpunkt der Entscheidung hatten die USA noch rund 2500 Soldaten in Afghanistan. Inzwischen ist der Abzug nach Militärangaben zu mehr als 95 Prozent abgeschlossen. Bis zum Monatsende soll er komplett beendet sein. Die Bundeswehr und die Soldaten anderer NATO-Länder haben Afghanistan bereits verlassen.

Taliban nehmen weitere Provinzhauptstädte ein

In Afghanistan konnten die Taliban gestern die Provinzhauptstädte Pul-i Chumri in der Provinz Baghlan im Norden des Landes sowie die Stadt Farah in der gleichnamigen Provinz im Westen des Landes erobern.

Dem Provinzrat Firusuddin Aimak zufolge verliessen die Regierungskräfte am Abend die 250.000-Einwohner-Stadt Pul-i Chumri ohne weiteren Widerstand. Mehrere Kommandeure und andere Behördenvertreter hätten die Stadt bereits vor 10 oder 15 Tagen verlassen und angekündigt, die Islamisten von einem anderen Weg aus anzugreifen. Die zurückgebliebenen Kräfte hätten noch ein paar Tage standgehalten, sich nun aber in eine Militärbasis ausserhalb zurückgezogen. Damit ist nun der Landweg zwischen der Hauptstadt Kabul in die nördliche Stadt Masar-i-Scharif abgeschnitten.

In Farah hätten die Islamisten die wichtigsten Regierungseinrichtungen in der Stadt eingenommen, darunter das Polizeihauptquartier, den Gouverneurssitz und das Gefängnis. Die Sicherheitskrfte hätten sich in eine Militärbasis rund vier Kilometer von der Stadt zurückgezogen, hiess es. Farah mit seinen geschätzt 128.000 Einwohnern liegt am Fluss Farah und in eher exponierter Lage mit offener Wüste im Süden.

Die Taliban rücken auch zunehmend auf die Grossstadt Masar-i-Scharif vor. Dort waren bis vor kurzem Hunderte deutsche Soldaten im Camp Marmal stationiert. Gestern habe es Gefechte in den Gebieten Langarchana und Pul-e Imam Buchari gegeben, die 15 respektive 20 Kilometer von der Stadt entfernt seien, sagte die Parlamentarierin Saifura Niasi.

zivile Opfer

Indessen werden immer mehr Zivilisten Opfer des sich intensivierenden Krieges. Das Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) berichtete, seit Anfang August seien in 15 vom IKRK unterstützten Gesundheitseinrichtungen mehr als 4000 durch Waffen verwundete Patienten behandelt worden. Die Zahl sei ein Hinweis auf die Intensität der jüngsten Gewalt. Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen teilte mit, auf dem Gelände eines Regionalkrankenhauses in der Provinzhauptstadt Lashkargah im Süden des Landes sei am Montag eine Rakete nahe der Notaufnahme eingeschlagen. Dies zeige, wie schwierig aktuell der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Hilfe sei. In einigen Städten wie Laschkargah oder Kundus lägen medizinische Einrichtungen direkt im Kampfgebiet.

Die Nato bewertet den gewaltsamen Taliban-Vormarsch als besorgniserregend. Das hohe Mass an Gewalt der Islamisten bei ihrer Offensive, darunter Angriffe auf Zivilisten und Berichte über Menschenrechtsverletzungen, sehe man mit «tiefer Sorge». Die Taliban müssten verstehen, dass die internationale Gemeinschaft sie nie anerkennen werde, wenn sie den politischen Prozess verweigerten und das Land mit Gewalt erobern wollten.

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