Muss die EU getrennt werden, um wieder zu funktionieren?
Die EU wurde mit der Zeit immer grösser – und schwerfälliger. Eine mögliche Lösung: Bestimmte Staaten könnten innerhalb der Union eine Art Mini-EU bilden.

Das Wichtigste in Kürze
- Die EU ist unter anderem wegen ihrer Grösse weniger handlungsfähig als auch schon.
- Ein Vorschlag: Die zugkräftigen Staaten sollen EU-intern ein eigenes «Kerneuropa» bilden.
- Wie kann das in der Praxis funktionieren? Experten ordnen gegenüber Nau.ch ein.
Die EU umfasst mittlerweile 27 Staaten. Da gibt es natürlich viele verschiedene Interessen und Werte, die man unter einen Hut bringen muss. Dass es ab und zu mal zu Uneinigkeiten kommt, scheint logisch.
Ein bekanntes Beispiel, das immer wieder für Aufsehen sorgt, ist der Streit zwischen Brüssel und Ungarn. Klar scheint aber: Viel mehr als Drohungen oder unwirksame Strafen hat die EU der Regierung in Budapest nicht entgegenzusetzen.
Für Gilbert Casasus, Experte für Europapolitik, braucht es in der EU unter anderem deshalb nun Regeländerungen. Gegenüber SRF bringt der emeritierte Professor der Universität Freiburg wieder die Gründung eines sogenannten «Kerneuropas» ins Spiel.
Heisst: Die sechs EU-Gründerstaaten (Frankreich, Deutschland, Italien, Belgien, die Niederlande und Luxemburg) sowie Spanien und möglicherweise auch Polen sollen eine Allianz bilden. Dies, um in bestimmten Bereichen noch weiter gehen zu können und handlungsfähiger zu werden.
Weitere Länder könnten mit Mehrheit aufgenommen werden
Gegenüber Nau.ch betont Casasus, dass es nicht um eine komplette Abspaltung geht. Stattdessen sieht die Kerneuropa-Idee «eine hierarchische Trennung» der EU-Mitglieder vor.

«Wer Europa nach vorne treiben möchte, kann Mitglied dieses Kerneuropas werden», so Casasus.
Weitere Länder würden zumindest in der Warteschlange stehen.
Die Grundidee: Potenzielle Mitglieder sollen mit einer Mehrheitsentscheidung ins Kerneuropa aufgenommen werden. Länder, die die Vorgaben nicht mehr einhalten, könnten per Mehrheitsentscheidung wieder aus der Gruppe rausfliegen.
Auch die Schweiz wäre willkommen, sagt Casasus – inklusive Führungsposition oder wegweisende Stellung. Der Clou: «Sie muss zuerst eine Hürde nehmen: Mitglied der EU werden!»

Das ist mit den aktuellen Mehrheiten in der Schweiz unrealistisch. SP-Aussenpolitiker Eric Nussbaumer sagt deswegen gegenüber Nau.ch: «Für die Schweiz ändert sich mit einer solchen institutionellen Reform nichts. Die Schweiz ist kein EU-Mitgliedsland, und daher wird sie in einer Kern-EU keine Rolle spielen.»
Kerneuropa soll für «überfällige Diskussion» sorgen
Eine hierarchische Trennung der EU-Staaten sei gut, findet Casasus. Mitglieder, die gegen die Grundwerte verstossen, sollen bestraft werden können. Im Extremfall soll es sogar ein Ausschlussverfahren geben.
Der geltende Vertrag von Lissabon verhindert dies aber – die EU brauche entsprechend vertragliche Änderungen. Casasus führt aus: «Die Einführung eines Kerneuropas würde unverzüglich für eine neue und überfällige sowie notwendige vertragsrechtliche und -politische Diskussion sorgen.»

Die Idee eines Kerneuropas ist an sich nicht neu. Die beiden deutschen CDU-Politiker Wolfgang Schäuble und Karl Lamers brachten eine Gründung schon 1994 ins Spiel. Angesichts der aktuellen Entwicklungen könnte das Vorhaben nun aber neuen Schwung erhalten.
Experten: Kleinere EU wäre schädlich
Laut Lars Rensmann, Politologe an der Universität Passau, wird oft von einem «Europa der zwei Geschwindigkeiten oder zwei Ebenen» gesprochen. Die Idee werde bei Krisen der EU immer wieder ins Feld geführt, so der Experte gegenüber Nau.ch.
«Natürlich ist der offensichtliche Vorteil, handlungsfähiger zu sein», so Rensmann. Gerade weil man sich mit weniger Partnern abstimmen muss. «Eine grundsätzliche Verkleinerung der EU ist aber nicht die Lösung dieses Problems», so Rensmann.

Oliver Morwinsky, Leiter des Auslandsbüros für die Baltischen Staaten der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung, betont gegenüber Nau.ch zunächst, dass der Begriff «Kerneuropa» vage ist.
«Eine generelle Verkleinerung der EU wäre katastrophal», warnt er. Damit würde die EU ihre geeinte Stärke verlieren und sich ihrer «einzigen Kraft» berauben. Letztlich sei das Auseinanderdividieren Europas «das offensichtliche Ziel» feindseliger Akteure oder Herausforderer.
Ein Zwei-Geschwindigkeiten-Europa oder – um einen anderen Begriff zu nennen – «eine Koalition der Willigen» sei eher möglich. Das habe es in der Vergangenheit auch schon gegeben, beispielsweise beim Euro oder beim Schengen-Abkommen. «Beides wurde zunächst von einigen Staaten vorangetrieben und weitere sind später beigetreten.»
Tut ein Kerneuropa dem Osten unrecht?
Doch was würde ein Kerneuropa für den Osten bedeuten? Wie Casasus im SRF-Interview sagte, stellen sich in Mittel- und Osteuropa «immer mehr demokratische Probleme». Gegen antieuropäische und prorussische Kräfte müsse man Massnahmen treffen. Warnzeichen gebe es beispielsweise in Rumänien oder der Slowakei.
Ein mögliches Dilemma ist jedoch, dass man Länder, die nicht Teil Kerneuropas wären, potenziell verärgern würde. Letztlich könnte man viele mittel- und osteuropäische Staaten so erst recht in die Arme Russlands oder anderer Staaten treiben. Das sei eine «reale Gefahr», sagt Rensmann.

Zudem muss man sicherlich zwischen den verschiedenen Ländern im Osten differenzieren. Morwinsky sagt am Beispiel der baltischen Staaten, dass die antieuropäischen oder prorussischen Kräfte dort nicht gross seien. Die Zustimmungswerte zur EU seien hoch. Die prorussischen Kräfte existieren zwar, «aber nicht mit grossen politischen Möglichkeiten und Aussichten».
Laut Casasus könnte ein Vertreter aus dem Baltikum tatsächlich dereinst auch auf der Kerneuropa-Warteliste stehen. Gleichzeitig sagt er aber: «Obwohl die politische Bilanz der baltischen Staaten insgesamt als positiv zu bewerten ist, machen sich auch einige Schwachstellen bemerkbar.»
Allgemein ist für Casasus klar, dass sich die Länder zwischen der EU und Russland entscheiden müssen. «Wer A sagt, muss auch B sagen. Wer als Geldnehmerstaat von den Zuschüssen der EU profitieren will, muss sich auch an ihre politischen Grundregeln halten.»
Einstimmigkeitsprinzip gerät unter Druck
Im Umgang mit diesen Ländern gibt es laut Rensmann folgende Möglichkeit: «Der Ansatz sollte es sein, die Staaten auf die Einhaltung demokratischer Grundprinzipien zu verpflichten und Mehrheitsentscheidungen auf EU-Ebene zu verstärken. Ein Zwangsaustritt sollte aber dennoch ein letztes Mittel werden können.»
Zwei konkrete Massnahmen könnten laut Rensmann helfen. Einerseits sollte die Achtung von Demokratie und Menschenrechten stärker bindend sein und durchgesetzt werden. Andererseits müsse sich die EU vom Einstimmigkeitsprinzip verabschieden.

Morwinsky sagt, dass das Prinzip der Einstimmigkeit «von der Grundidee richtig» sei. «Mittlerweile passt es jedoch nicht mehr in die Realität – leider.»
Auch kleinere Staaten wie die baltischen Staaten würden dies mittlerweile so sehen. Obwohl es natürlich Bedenken gibt, dass man die erst kürzlich erlangte Unabhängigkeit wieder verlieren könnte. «Aber sie sehen die aktuellen Herausforderungen und vor allem, dass das Element der Einigkeit so wichtig ist.»