Vor einem Jahr hat Grossbritannien die EU-Zollunion und den Binnenmarkt verlassen. Premierminister Johnson lobt, der Austritt habe dem Land gut getan und zieht eine Erfolgsbilanz. Experten sind anderer Ansicht.
Boris Johnson unterzeichnet im Dezember 2020 den Brexit-Handelspakt mit der Europäischen Union. Foto: Leon Neal/PA Wire/dpa
Boris Johnson unterzeichnet im Dezember 2020 den Brexit-Handelspakt mit der Europäischen Union. Foto: Leon Neal/PA Wire/dpa - dpa-infocom GmbH
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Das Wichtigste in Kürze

  • Hört man Boris Johnson zu, haben sich alle Brexit-Erwartungen erfüllt.

Handelsverträge mit 70 Staaten im Wert von 900 Milliarden Euro, unsinnige EU-Bürokratie abgeschafft und dadurch eine rasante Corona-Impfkampagne hingelegt sowie ein Einwanderungssystem für die klügsten Köpfe ausgetüftelt. Dies seien die zentralen Errungenschaften des EU-Austritts, lobte sich der britische Premierminister an Neujahr. Doch Experten schütteln den Kopf über die Auflistung.

Der Brexit ist noch längst nicht «done», erledigt

«Seine Vermeidung der vielen Schwierigkeiten, Knackpunkte und Kosten deutet darauf hin, dass Grossbritannien noch weit von einer ausgewogenen und wohlüberlegten Debatte über die Gestaltung der Beziehungen zur EU entfernt ist», sagte der Politologe Simon Usherwood von der Open University der Deutschen Presse-Agentur. Denn der Brexit ist noch längst nicht «done», erledigt, wie Johnson selbst indirekt einräumte. Eine Bestandsaufnahme.

Handel: Von den Verträgen, die der Premier nun so hervorhebt, ist bisher nur ein Deal mit Australien völlig neu ausgehandelt, ein weiterer mit Neuseeland steht bevor. Die übrigen spiegeln letztlich die EU-Kontrakte. Doch der Unmut über die neuen Verträge ist gross. Britische Landwirte fürchten, von billigem Fleisch aus Australien und Neuseeland vom Markt gedrängt zu werden. Das wichtigste Vorhaben - ein Freihandelsabkommen mit den USA - ist in weiter Ferne.

Der Handel ist schwieriger geworden

Bürokratie: Einige Branchen profitieren in der Tat, wie ein Diplomat eines EU-Landes in London anerkennt. Autonomes Fahren oder Künstliche Intelligenz seien zwei Bereiche, in denen ohne strikte EU-Regeln nun mehr Möglichkeiten bestünden. Aber: «Das sind nur Nischen.» Tatsächlich hat die Bürokratie zugenommen, bereits seit einem Jahr ist der Handel wegen notwendiger Dokumentation schwieriger geworden. Seit Jahresbeginn kontrolliert Grossbritannien nun auch einige Importe aus der EU strenger. Der Handel kleinerer Unternehmen mit der EU nehme dauerhaften Schaden, befürchtet der Tiefkühlkostverband BFFF.

Verbraucher: Die Handelsprobleme haben konkrete Auswirkungen. Der Grossteil frischer Lebensmittel stammt aus der EU, Regale blieben leer. Seit dem Brexit ist es wegen teurer Arbeitsvisa schwieriger für Fachkräfte, ins Land zu kommen. Das betrifft viele Branchen, in denen bisher vor allem EU-Bürger arbeiteten - von Transport über Fleischverarbeitung bis zur Gastronomie.

Migration: Klasse statt Masse strebt Innenministerin Priti Patel an. Die ungehinderte Freizügigkeit will Patel stoppen und damit eine zentrale Forderung der Brexiteers umsetzen. Stattdessen sollen die klügsten Köpfe kommen. Doch gab es auf ein neues Sondervisum für wissenschaftliche Preisträger bisher keine Bewerbung. Zu Patels Unmut kamen weiterhin viele Migranten illegal über den Ärmelkanal. Die Zeitung «Independent» kommentierte, dies sei die grösste Herausforderung für Johnson im neuen Jahr.

Konjunktur: Noch überschattet die Pandemie viele Brexit-Sorgen. Eine klare Einschätzung, inwiefern der EU-Austritt verantwortlich ist für leere Kassen und enorme Steuererhöhungen, steht noch aus. Die Aufsichtsbehörde Office for Budget Responsibility (OBR) kommt aber zu dem Schluss, der EU-Austritt werde das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 4 Prozent verringern, doppelt so viel wie die mutmassliche Belastung durch die Pandemie mit einem Minus von 2 Prozent.

Nordirland: Noch immer gibt es keine Einigung über den Status der Provinz, die de facto weiterhin den Regeln der EU-Zollunion folgt. Das soll eine harte Grenze zum EU-Mitglied Irland und neue Konflikte in der früheren Bürgerkriegsregion vermeiden. Doch tatsächlich ist eine innerbritische Zollgrenze entstanden. Das ist London ein Dorn im Auge, weshalb Johnson die selbst vereinbarte Abmachung neu verhandeln will. Nicht ins Bild passt für Johnson dabei, dass die aktuelle Regelung der nordirischen Wirtschaft einen Boom beschert hat. Weil Unternehmen problemlos mit Grossbritannien und der EU handeln können, haben sie einen Vorteil gegenüber ihren britischen Konkurrenten.

Experte: Eine Annäherung ist nicht in Sicht

Nordirland erwähnte Johnson an Neujahr nicht, hingegen feierte er die Wiedereinführung des alten Eichmasses, der Crown Stamp. «Wenn Kronen auf Pint-Gläsern wichtiger sind als der Status Nordirlands, ist es schwer vorstellbar, dass sich diese Regierung von ihren lange gehegten Neurosen über den Brexit abwendet», sagte Experte Usherwood. Dazu gehört auch das gestörte Verhältnis mit der EU.

Eine Annäherung sei nicht in Sicht, schrieb der Experte Anand Menon kürzlich. Im Brexit-Abkommen wird die Zusammenarbeit mit dem alten Partner nicht erwähnt, und die britische Regierung scheine kein Interesse an einer Kooperation zu haben, so Menon. Aussenministerin Liz Truss fällt vor allem damit auf, dass sie das Wort «EU» zu vermeiden sucht. «Global Britain» schielt nach neuen Partnern.

In Umfragen hat sich die öffentliche Meinung gewandelt. Auch ein grosser Anteil von «Leave»-Wählern meint mittlerweile, dass der Brexit keine gute Idee war. Anders als bei seinem überwältigenden Wahlsieg 2019 sei der EU-Austritt kein Trumpf mehr für Johnson, so Menon. «Stattdessen könnten ihn die Folgen, sowohl im Inland als auch international, bald verfolgen.»

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