Ist das heutige Frankreich am Ende?
Die französische Politik steht vor der Handlungsunfähigkeit. Warum ist das so? Und würden Neuwahlen oder ein Rücktritt von Emmanuel Macron die Lage entschärfen?

Das Wichtigste in Kürze
- Seit Montag hat sich die Politkrise in Frankreich noch mehr zugespitzt.
- Neuwahlen würden in der aktuellen Situation nicht viel bringen, erklären Experten.
- Bei einem Rücktritt von Präsident Macron stelle sich die Frage nach dem danach.
Am Montag kam es in Frankreich zu einem regelrechten Polit-Beben.
Premierminister und Macron-Vertrauter Sébastien Lecornu trat zurück. Dies nur Stunden, nachdem das neue Kabinett der französischen Regierung präsentiert wurde. Und nach nur 27 Tagen im Amt.
Die französische Politik steht vor der Handlungsunfähigkeit.
Es ist eine weitere Posse im Polit-Chaos der Grande Nation, das schon seit den Parlamentswahlen 2024 andauert. Und es verdeutlicht einmal mehr, dass auch der Stuhl von Präsident Emmanuel Macron wackelt.
Was genau geht derzeit in Frankreich vor sich?
«Wer Zugeständnisse macht, gilt als schwach»
Einen Grund für das Chaos sieht Frankreich-Experte Jacob Ross bei der französischen Politik und Gesellschaft. Diese sei «wesentlich stärker auf Konfrontation ausgelegt als auf Kompromisse», sagt er zu Nau.ch.
Er erklärt: «Wer Zugeständnisse macht, gilt schnell als schwach und zahlt einen politischen Preis dafür.»
Dies gelte nicht nur für die Politik, sondern auch für die Wirtschaft. «Die Tarifverhandlungen in Frankreich sind zum Beispiel eher ein Kräftemessen als die Suche nach einem für beide Seiten tragbaren Ergebnis.»
Ross führt aus: «Emmanuel Macron ist also aktuell zwar das erste Ziel entsprechender Vorwürfe. Er ist damit aber durchaus repräsentativ für die französische Gesellschaft.»
«Die Republik hat ihr Endstadium erreicht»
Anders sieht es Gilbert Casasus. Er ist emeritierter, also teilweise in Ruhestand getretener, Professor für Europastudien an der Universität Fribourg. Er sieht den Grund für die politische Misere Frankreichs eher in ihrem politischen System.
«Der Präsident ist mächtig, aber nicht allmächtig», erklärt er gegenüber Nau.ch. «Und ohne parlamentarische Mehrheit oder parlamentarische Unterstützung ist seine Macht begrenzt.»
Das Problem sei die von Charles de Gaulle gegründete fünfte Republik, so Casasus. Das Politsystem, das auf einer starken und mehrheitsfähigen Partei beruht, lähmt die Politik.
Dies, da keine Partei eine Mehrheit erreicht. Für Casasus ist klar: «Die Republik hat ihr Endstadium erreicht, was den meisten Franzosen noch nicht bewusst ist.»
Zu Macron meint er: «Als Hoffnungsträger trat Emmanuel Macron 2017 sein Amt an, um die französische Politik zu erneuern. Acht Jahre später steht er vor einem Scheiterhaufen, den er mitverursacht hat.»
Neuwahlen kein Weg aus der politischen Krise
Doch was wäre nun zu tun, um Frankreichs Politik aus der Krise zu führen? Bräuchte das Land Neuwahlen?
Dazu sagt Jacob Ross: «Eine Neuwahl in der Nationalversammlung würde vermutlich nicht viel zur Klärung beitragen.»
Denn keiner Partei könne laut aktuellen Umfragen eine absolute Mehrheit erlangen. Diese sei aber nötig, um «den alleinigen Anspruch auf Regierungsverantwortung und die Gesetzgebung der Regierung zu beanspruchen».
Und auch Gilbert Casasus hält Neuwahlen für einen falschen Weg, um der Politkrise Herr zu werden.
Er betont: «Sollten heute Neuwahlen in Frankreich stattfinden, ist mit dem Sieg der rechtsradikalen Rassemblement national zu rechnen. Das Risiko ist zu gross.»
Experte: Macron-Rücktritt könnte Lage entspannen
Könnte denn ein Rücktritt von Emmanuel Macron die politische Lage entspannen?
Ja, findet Jacob Ross. «Macrons Nachfolger oder seine Nachfolgerin könnten, mit einem frischen Mandat im Rücken, Reformen angehen und ein ambitioniertes Programm durchsetzen.»

Doch er warnt: «Derzeit liegt in allen Umfragen für die erste Wahlrunde das Rassemblement National vorne.»
Ross stellt in Zweifel, ob «die Rechtsaussen die Situation wirklich beruhigen» würden.
Was käme nach Emmanuel Macron?
Ähnlich sieht es Gilbert Casasus. Er warnt davor, mit dem politischen Feuer zu spielen. Dies sei immer gefährlich. Es stelle sich die grosse Frage, was nach Emmanuel Macron komme.
Denn: «Sollte Emmanuel Macron demnächst zurücktreten, dürfte Marine Le Pen aufgrund ihrer Verurteilung nicht antreten. Favorit wäre ihr Komparse Jordan Bardella.»

Dieser sei lediglich ein 30-jähriger Mann, der über keine Exekutiverfahrung verfüge. Das lohne sich nicht, «da Frankreich seiner politischen und internationalen Würde treu bleiben» müsse.