Eishockey-Coach Söderholm: «Wir leben hier nicht im Zirkus»
Am Freitag beginnt für Toni Söderholm die zweite WM als Eishockey-Bundestrainer. Der 43-Jährige steht dabei angesichts der Umstände vor grossen Herausforderungen.
Das Wichtigste in Kürze
- Hinter Eishockey-Bundestrainer Toni Söderholm liegt eine schwierige Zeit.
Nach seiner ersten WM 2019, die Deutschland als Sechster mit dem besten Ergebnis seit dem vierten Platz bei der Heim-WM 2010 abschloss, stand der Finne nur noch beim Deutschland Cup 2019 an der Bande - bis zur WM-Vorbereitung in diesem Jahr.
Durch die Coronavirus-Pandemie fiel die WM im vergangenen Jahr mitsamt Testspielen aus, beim Deutschland Cup 2020 war Söderholm selbst wegen einer Covid-19-Erkrankung nicht dabei. Anderthalb Jahre lang arbeitete der 43-Jährige nur eingeschränkt mit dem Nationalteam, am Freitag beginnt seine zweite WM als Bundestrainer. Die Zeit für ein deutsches WM-Halbfinale ist «sicherlich reifer», sagte Söderholm im Interview der Deutschen Presse-Agentur.
Frage: 2019 war Ihre erste WM, die mit der besten deutschen Vorrunde und mit dem Viertelfinale erfolgreich verlief. Das ist nun schon zwei Jahre her. Mit welchen Gefühlen gehen Sie in diese spezielle WM?
Toni Söderholm: Ich habe ein gutes Gefühl, ein sehr positives Gefühl. Die Jungs sind sehr gut gelaunt. Sie sind stolz, dass sie Deutschland repräsentieren. Ich bin zuversichtlich, dass wir das gut hinkriegen.
Frage: Es ist eine WM in der Blase, es besteht die Gefahr von Corona-Fällen. Wie gross ist die Herausforderung dieser WM?
Söderholm: Hier kommen viele Herausforderungen auf uns zu. Wir müssen bereit sein, damit wir richtig reagieren, wenn etwas passiert. Aber unsere Gedanken werden nur durch die Spiele und die Spieler gesteuert. Sollte was passieren, dann passiert es. Der Fokus liegt auf dem ersten Spiel gegen Italien und gleichzeitig auf Norwegen ein bisschen. Alles was Drumherum passiert, raubt Energie.
Frage: Haben Sie sich mehr Gedanken gemacht, wie Sie die Spieler bei Laune halten?
Söderholm: Du brauchst nicht jeden Tag Entertainment zu machen. Wir leben hier nicht in einem Zirkus.
Frage: Die Vorbereitung war von den Ergebnissen her nicht gut. Dennoch werden von den Spielern sehr selbstbewusste Ziele genannt. Woher kommt der Optimismus?
Söderholm: Ich hoffe, dass sie ein grosses Selbstvertrauen in unser Spielsystem haben. Und die Jungs vertrauen einander zu 100 Prozent. Das zählt dazu. Die deutschen Spieler sind allgemein selbstbewusster. Sie wollen was erreichen. Die Ergebnisse in der Vorbereitung spielen keine grosse Rolle, da wird viel getestet.
Frage: Wie lautet die genaue WM-Zielsetzung?
Söderholm: Ich gehe davon aus, dass wir in der letzten Woche spielen. Das Ziel ist, oben zu spielen. Das Ziel ist, das maximale Potenzial rauszuholen.
Frage: Die Spieler äussern sich extrem ambitioniert und schliessen selbst den WM-Titel nicht aus. Ist die Zeit reif für das erste deutsche WM-Halbfinale seit 2010?
Söderholm: Ich würde gerne ja sagen, aber wie kann ich das prophezeien? Aber die Zeit ist sicherlich reifer. Es kommt näher und näher, dass eine deutsche Nationalmannschaft ein Halbfinale spielt. Jetzt ist etwas mehr Ungewissheit in diesem Turnier. Es geht für viele Mannschaften mehr um den Charakter. Bei den anderen Nationen fehlen auch Top-Leute. Die Schweden sind mit 20 Neulingen hier. Es wird ein bisschen ein anderes Turnier. Es wird unheimlich hart gekämpft auf dem Eis.
Frage: Ist es genau deshalb eine besondere Chance für Deutschland?
Söderholm: Den Gedanken habe ich schon länger. In dieser ungewissen Zeit und in der Bubble-WM liegen viele Möglichkeiten für uns.
Frage: Wer ist der Top-Favorit?
Söderholm: Es gibt keinen Top-Favoriten. In diesem Jahr ist es noch schwieriger zu sagen als sonst, wer der Topfavorit ist. Wenn man die Kader nimmt, sieht Russland stark aus, die Tschechen sehen stark aus. Die Nordamerikaner haben vielleicht mehr Fragezeichen als sonst, die Spieler sind ein bisschen unbekannter. Aber wir reden über sehr, sehr gute Mannschaften. Der richtige Zeitpunkt für uns muss passen, dann ist vieles für uns möglich.
Frage: Der erste Gegner Italien hat mit 15 Corona-Fällen erhebliche Sorgen. Wie gross sind die Bedenken, gegen die Italiener zu spielen?
Söderholm: Das ist sicherlich keine optimale Situation, gegen sie im ersten Spiel zu spielen. Kasachstan hat, was ich gehört habe, auch einen Fall gehabt, aber das ist später erst unser Gegner. Wir müssen uns aber auf das fokussieren, was wir beeinflussen können. Für Angst ist es der falsche Zeitpunkt. Angst ist der falsche mentale Zustand, um Eishockey zu spielen.
Frage: Topstar Leon Draisaitl ist erstmals seit sechs Jahren nicht dabei. Ist es einfacher, wenn sich nicht alles auf ihn fokussiert?
Söderholm: Auch 2019 hat die Gruppe funktioniert. Ich würde nicht sagen, dass die Einheit in der Gruppe weg ist, wenn Leon da ist - ganz im Gegenteil. Eine Gruppe braucht Führungsspieler. Wir haben auch diesen Kader jetzt so zusammengestellt, dass wir Führungsspieler und viel Charakter in der Mannschaft haben. Wenn Leon bei uns ist, haben wir ein herausragendes Talent in unserer Mannschaft. Nun haben wir diese Mannschaft, und wir reden nur über sie.
Frage: Top-Verteidiger Moritz Seider hat eine glänzende Saison in Schweden hinter sich. Hat er mit seinen 20 Jahren schon das Zeug, ins WM-All-Star-Team gewählt zu werden?
Söderholm: Wenn wir als Mannschaft gut spielen, hat er die Möglichkeit. Er strahlt sehr viele Energie aus. Wir werden ihn von seinem Energielevel eher etwas runterholen müssen. Er hat jetzt mehrere Jahre sehr professionell trainiert, hat sehr viel Kraft zugelegt. Er hat eine sehr gute Balance auf den Schlittschuhen. Es ist eine sehr positive Entwicklung. Er ist absolut ein NHL-Verteidiger.
Frage: Der Kölner Verteidiger Moritz Müller zählt zu den erfahrenen Führungskräften. Bleibt er Kapitän?
Söderholm: Ja. Er ist ein absoluter Top-Führungsspieler. Er übernimmt Verantwortung dafür, dass sich alle Spieler wohlfühlen. Er übernimmt Verantwortung dafür, dass die Spieler alle unsere Werte kennen und sie widerspiegeln. Er sorgt dafür, dass sich jeder Mitspieler als Teil der Mannschaft fühlt. Er setzt sich zu 1000 Prozent in jedem Training und Spiel ein. Er spielt konstant. Er opfert seinen Körper, er opfert seinen Kopf für die Mannschaft.
ZUR PERSON: Toni Söderholm wurde Ende 2018 überraschend Nachfolger von Marco Sturm als Eishockey-Bundestrainer. Der inzwischen 43 Jahre alte finnische Ex-Profi war zu dem Zeitpunkt Trainer beim Drittligisten SC Riessersee. Söderholm überzeugte Spieler und Verband jedoch mit seiner offenen, humorvollen und verständnisvollen Art. Er animiert seine Spieler zu mehr Selbstbewusstsein.