Der Nationalrat hat die Präsentation der Jahresziele für 2023 des Bundesrates für eine Debatte über die zukünftige Ausrichtung der Schweizer Europapolitik genutzt. Von fast allen Fraktionen musste sich Bundespräsident Ignazio Cassis am Mittwoch Kritik anhören. Es gelte, den gegenwärtigen Stillstand im Verhältnis der Schweiz zur EU zu überwinden.
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Nationalräte stimmen während den Schlussabstimmungen ab, am letzten Tag der Frühlingssession der Eidgenössischen Räte, am Freitag, 19. März 2021, im Nationalrat in Bern. - Keystone
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Das Wichtigste in Kürze

  • Normalerweise ist die Berichterstattung des Bundesrates zu den Jahreszielen nicht viel mehr als eine Formalie.

Beschlüsse waren keine zu fassen. Eine Diskussion stand ursprünglich nicht auf dem Programm.

Am Dienstag hatte der Baselbieter SP-Nationalrat Eric Nussbaumer aber mittels eines Ordnungsantrags verlangt, das Geschäft einer anderen Behandlungskategorie zuzuweisen. Eine Mehrheit wollte wie beantragt einen Austausch zum EU-Dossier ermöglichen.

Cassis verwies auf die laufenden Sondierungsgespräche mit der EU. Er bekräftigte, Ziel der Schweiz sei, Regelungen zu institutionellen Fragen in den einzelnen bilateralen Abkommen zu verankern. Dies im Sinne einer Alternative zu einem Rahmenabkommen. Die grössten Schwierigkeiten zeigten sich dabei im Bereich der Personenfreizügigkeit und des Lohnschutzes. Dem Bundespräsidenten geht es nach eigener Aussage darum, sowohl die Akzeptanz künftiger Lösungen sowohl innenpolitisch als auch aufseiten der EU sicherzustellen.

Nicht infrage kommt für die Landesregierung eine Neuauflage des Rahmenabkommens, wie der Bundespräsident auf Nachfrage klarstellte.

Unterstützung für den sektoriellen Ansatz erhielt Cassis von seiner eigenen Partei. Der bilaterale Weg sei aus Sicht der Freisinnigen nach wie vor richtig, betonte Laurent Wehrli (FDP/VD). Die europäischen Staaten seien nicht nur die wichtigsten Handelspartner der Schweiz. Diese teile mit ihnen ach eine gemeinsame Geschichte und gemeinsame Werte.

In seiner Fraktion bestehe der Eindruck der Untätigkeit, kritisierte dagegen Nussbaumer namens der SP-Fraktion. Er forderte vom Bundesrat, im nächsten Jahr ein neues Verhandlungsmandat in die Vernehmlassung zu geben. Zudem brauche es Schritte in der Innenpolitik, namentlich Gespräche mit den Kantonen und den Sozialpartner.

«Die europapolitischen Ziele des Bundesrats sind eine Farce», sagte Sibel Aslan (Grüne/BS). Es gelte nun, eine neue Europa-Allianz ohne die SVP zu schmieden. Denn gerade der Ukraine-Krieg zeige die Wichtigkeit der Zusammenarbeit in Europa.

Die Bevölkerung wolle geregelte Beziehungen mit der EU, sagte Elisabeth Schneider-Schneiter (Mitte/BL). Man hätte erwarten können, dass der Bundesrat dazu mehr unternehme. Denn konkret kündige die Landesregierung in den Jahreszielen nur gerade Schritte zur Teilnahme an zivilen EU-Missionen und zu den Kohäsionsbeiträgen an.

«Langsam aber sicher reisst der Geduldsfaden», mahnte Schneider-Schneider. Seit dem Abbruch der Gespräche über ein Rahmenabkommen warte man auf einen Plan. Die Erosion der bilateralen Abkommen habe bereits begonnen.

«Der Bundesrat hat offensichtlich keine Strategie», sagte auch Tiana Angelina Moser (ZH) namens der GLP-Fraktion. Die europapolitischen Ziele des Bundesrates spiegelten diese inhaltliche Leere. Sie bekräftigte die Forderung ihrer Partei nach einer Neuauflage des Rahmenabkommens.

SVP-Fraktionssprecher Roger Köppel nutze die Debatte für erneute Kritik an der Übernahme der Sanktionen gegen Russland durch die Schweiz. Er forderte eine Rückkehr zur integralen, bewaffneten Neutralität. «In meiner Lebenszeit ist die Welt noch nie so nahe an einem Atomkrieg gestanden wie heute», warnte er. Man sei auf einem Vulkan: «Mein Eindruck ist, dass die Grossmächte - nicht nur die Russen - den Apokalypso tanzen».

Statt sich der EU anzunähern, so Köppel, müsse die Schweiz ihre Verteidigungsfähigkeit stärken. Einmal mehr erteilte er auch der automatischen Übernahme von EU-Recht und einer Verstetigung der Kohäsionszahlungen an die Europäische Union eine Absage.

Cassis wehrte sich gegen den Vorwurf der Untätigkeit. Der Bericht zu den Jahreszielen sei schon im April fertiggestellt worden. Damals habe gerade einmal ein Sondierungsgespräch mit der EU stattgefunden, und nach dem Ausbruchs des Ukraine-Kriegs im Februar habe man eine akute Krise auf dem Tisch. Darum habe er im Rat präzisiert, was man tue.

Den Grünen stellte der Bundespräsident die Frage, ob die Partei im Bereich der Personenfreizügigkeit mit Zugeständnissen einverstanden wäre. Es gelte, von der Heuchelei wegzukommen. «Wir alle müssen uns fragen, wozu wir bereit sind», appellierte er an die Nationalratsmitglieder.

Im Fokus der Jahresziele steht nach Aussage Cassis' die Bewältigung der Folgen des Ukraine-Kriegs. Herausforderungen stünden insbesondere in der Aussen- und der Migrationspolitik, aber auch bei der Landesversorgung an, insbesondere im Energiebereich.

Die Jahresziele der Landesregierung orientieren sich an den Leitlinien der Erhaltung des Wohlstands, des nationalen Zusammenhalts und der Sicherheit.

Als ein zentrales Projekt für das kommende Jahr nannte Cassis die Umsetzung der OECD-Mindeststeuer für international tätige Konzerne.

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