Unser Kolumnist denkt zwischen Halloween und Allerseelen über den Tod durch Corona nach – und warum einige ihn nur in abstrakten Zahlen ertragen.
reda el Arbi
«Fadegrad»-Kolumnist Reda El Arbi: «Es gibt kein Menschenrecht auf einen Twitter-Account.» - Nau.ch
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Das Wichtigste in Kürze

  • Nau.ch-Kolumnist Reda El Arbi sagt, warum Corona-Tote nicht nur eine Zahl sein dürfen.
  • El Arbi erlangte als Blogger und Journalist Bekanntheit.
  • Bis 2011 war er Chefredaktor des Satiremagazins «Hauptstadt».
  • Er lebt mit Frau und mehreren Hunden in Stein am Rhein SH.

«Es sind nur soundsoviel Prozent, die an Corona sterben, da sterben mehr an XY!», ist ein Satz, den man in letzter Zeit viel im Zusammenhang mit Corona hört. Sterbende Menschen in ein Verhältnis zu einer grossen Zahl zu setzen, scheint vielen eine Ausflucht zu sein, um sich nicht mit dem Sterben durch Covid auseinandersetzen zu müssen.

Zahlen rücken das Sterben, das Ersticken der Opfer, weit weg, machen es sauber und kalkulierbar, rationalisieren es. Es sind nicht mehr Menschen, es sind Ziffern in einer Excel-Tabelle oder einer Grafik. Es hat nichts mit dem eigenen Leben zu tun. Diese Leute sind zu feige, um dem Tod ins Auge zu blicken.

Ein gutes Beispiel, wie man sich den Tod schönrechnen kann. Alternativ: 52 Tote in 24 Stunden, Tendenz steigend - Screenshot Twitter

Dann gibts auch noch diejenigen, die den Tod als Opfer für die Freiheit hochjubeln. Die denken, dass die Toten einen angemessenen Preis darstellen, den man für die eigene Freiheit (Party zu machen, Einkaufen zu gehen, keine Maske zu tragen) bezahlen kann. Sie kommen sich dabei auch noch heldenhaft vor, weil sie denken, dass sie keine Angst vor dem Tod haben, wenn sie «Freiheit oder Tod» schreien. Aber ganz offensichtlich ist es nicht so einfach, und schon gar nicht heldenhaft:

Es gibt Menschen, die für Freiheit sterben würden. Dann gibts Menschen, die für Freiheit töten würden. Und dann gibts noch die, die für die eigene Freiheit andere sterben lassen.

Sie sehen den Unterschied? Wer denkt, die eigene Freiheit rechtfertige den Tod von anderen, sollte sich mal die Namen und den Verwandtschaftsgrad der Menschen notieren, die er gerne für seine Freiheit sterben lassen würde.

Kreuze für Opfer der Corona-Pandemie auf einem Friedhof in Rio de Janeiro. Foto: Silvia Izquierdo/AP/dpa
Kreuze für Opfer der Corona-Pandemie auf einem Friedhof in Rio de Janeiro. Foto: Silvia Izquierdo/AP/dpa - dpa-infocom GmbH

Aber zurück zum Tod und Zahlen. Die Relativierung durch Vergleiche funktioniert übrigens nur in eine Richtung, in der Verniedlichung. Kehrt man die Verhältnisse um, bleibt einem der Atem stocken. Beispiel: Durchschnittlich sterben in der Schweiz jeden Tag 185 Menschen. Vom Donnerstag auf den Freitag starben zusätzlich 52 Menschen an Corona. Wenn an einem Tag 52 Menschen im Verkehr ums Leben kämen, oder bei einem Terroranschlag sterben würden, wäre die Reaktion signifikant anders. Wenn die Aussicht bestände, dass am Montag weitere 150 bis 200 Tote dazukämen, gäbe es einen Aufstand. 150 Opfer durch Terror, Verkehr, Lebensmittelvergiftung, etc. an einem Tag in der Schweiz wäre die grösste Katastrophe seit Menschengedenken. Bei Corona jedoch sind viele von uns so abgestumpft, dass es eben nur eine weitere Zahl ist.

Man erkennt die Menschen nicht mehr, und wenn, dann kategorisiert man sie. Es sind ja nur die Alten, die wären sowieso gestorben. Oder es sind nur Menschen mit Vorerkrankungen, jänu. Man entmenschlicht die Opfer zu einer statistischen Gruppe, um dem realen Tod auszuweichen. Man macht sich vor, dass der Tod nichts mit dem eigenen Leben zu tun hat. Bis die Einschläge näher kommen, bis jeder jemanden kennt, der daran starb. Und bei unseren Zahlen dauert das nicht mehr lange.

Virus Outbreak Brazil coronavirus
Menschen an einem Friedhof von Corona-Opfern. - keystone

Es gibt Zahlen, die im Zusammenhang für den Tod relevant sind: Es ist die Anzahl der Trauernden, die ein Sterbender zurücklässt, es ist die Anzahl der Stunden, die ein Mensch nicht mehr mit der Familie verbringen kann. Es ist die Summe der Atemzüge, die jemand vor seinem Tod durch eine Beatmungsmaschine bekommt.

Wer ethische Diskussionen über den Tod führt, sollte das nicht mit abstrakten Zahlen tun, sollte das Sterben nicht mathematisieren. Wer über die Opfer dieser Pandemie spricht und sie für tragbar oder notwendig erachtet, sollte wenigstens ein Mal jemanden in den Tod begleitet haben, sollte einmal an einem Intensivbett gesessen, die Hand eines Erstickenden gehalten und danach den Angehörigen die Nachricht des Ablebens überbracht haben.

Jeder Tod hat ein Gesicht, eine Geschichte. Erst, wenn man sich das vorstellen kann, wenn man den Schmerz nachvollziehen kann, sollte man als Politiker Entscheide treffen, die Todesopfer mit sich bringen, oder als Journalist mit Zahlen spielen, die ausgelöschte Lebensgeschichten beinhalten. Alles andere ist feige.

Spanische Grippe im Vergleich
An Covid-19 sind in den USA mittlerweile mehr Menschen gestorben als an der Spanischen Grippe. (Archivbild) - dpa

Vielleicht ist es für mich einfacher, dem Tod ins Auge zu sehen, weil ich ihm selbst einige Male begegnet bin, bei mir und bei vielen Freunden, an deren Gräbern ich stand, oder die ich in den Tod begleitete. Und vielleicht ist es genau das, was mich das Leben so schätzen lässt. Nicht nur mein eigenes Leben, sondern auch das von Menschen, die ich nie kennengelernt hab, deren Wert ich aber meinem gleichsetze.

Gestern war Halloween, Dia de los Muertos, morgen ist Allerseelen. Eine Zeit im Jahr, in der man den Toten gedenkt. Dieses Jahr sollte man vielleicht nicht den Toten von gestern gedenken, sondern denen von morgen, übermorgen und nächster Woche.

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