Immer mehr Jugendliche müssen ins Heim

Rowena Goebel
Rowena Goebel

Zürich,

Die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die in ein Heim eingewiesen werden, nimmt in den Deutschschweizer Kantonen zu. Was dahintersteckt.

Jugendliche
Immer mehr junge Menschen landen in Jugendheimen. (Symbolbild) - pexels

Das Wichtigste in Kürze

  • In neun von zwölf befragten Kantonen nimmt die Zahl der Jugendlichen in Heimen zu.
  • In Zürich ist gar die Kapazitätsgrenze erreicht – es ist ein Ausbau geplant.
  • Die Gründe für die Zunahme sind vielfältig: Corona, Migration oder psychische Probleme.

In der Deutschschweiz werden immer mehr junge Menschen in Heimen platziert.

Teilweise schaffen es die Behörden sogar nicht mehr, den Bedarf abzudecken. Das zeigt eine Umfrage von Nau.ch unter den 12 grössten Deutschschweizer Kantonen.

Betroffen ist unter anderem Zürich. Der bevölkerungsreichste Kanton der Schweiz verzeichnet seit 2021 einen Anstieg.

Wie die Bildungsdirektion des Kantons auf Anfrage von Nau.ch erklärt, lebten 2020 pro 1000 Minderjährige 5,9 im Heim. «Bis 2023 wurde das Angebot auf sieben Heimplätze pro 1000 Minderjährige erhöht.»

Zürich muss Heim-Angebot ausbauen

Eine Analyse hat zuletzt gar gezeigt, dass sich das bestehende Angebot «an seiner Kapazitätsgrenze befindet». Darum soll das Platzangebot von 2026 bis 2029 ausgebaut werden.

Im zweitgrössten Kanton, Bern, haben die Zahlen zwar zugenommen, allerdings nur im Verhältnis zum Bevölkerungswachstum.

Kennst du eine Person, die in der Kindheit oder Jugend in einem Heim lebte?

In St. Gallen platzierten KESB und Eltern zuletzt leicht mehr Kinder und Jugendliche in Heimen. Eine Zunahme zeichnet sich auch in den kommenden Jahren ab.

Im Kanton Luzern wurden 2024 laut SRF 32 junge Menschen neu durch die KESB in einem Heim platziert. 2023 waren es noch 22.

Besonders dramatisch klingt es im kleinen Kanton Thurgau.

Die kantonale Pflegekinder- und Heimaufsicht schreibt: «In den letzten fünf bis zehn Jahren ist die Zahl der Kinder und Jugendlichen in Heimen deutlich angestiegen.»

Der Bedarf an Heimplätzen ist so gross, dass sie meist unmittelbar nach einem Austritt wieder belegt seien.

«Obwohl in den letzten drei Jahren zusätzliche Heimplätze geschaffen wurden, bleibt die Nachfrage hoch. Nicht alle Anfragen können erfüllt werden.»

Laut der Behörde stammt rund die Hälfte der Minderjährigen aus anderen Kantonen.

Solothurn, Basel-Stadt und Wallis melden mehr Fälle

In Solothurn ist die Zahl der Minderjährigen in Heimen von 2018 bis 2022 besonders stark gestiegen. In dieser Zeit nahm sie um 15 Prozent zu, wie das Amt für Gesellschaft und Soziales schreibt.

«Die Zunahme hat sich in den vergangenen fünf Jahren abgeschwächt. Es muss aber weiterhin von einer leichten jährlichen Zunahme der Anzahl an Heimplatzierungen ausgegangen werden.»

Ähnlich im Wallis: Hier hat die Zahl über die letzten zehn Jahre deutlich zugenommen, sich zuletzt aber wieder abgeschwächt. 2015 lebten 425 Jugendliche in Heimen, 2020 waren es 537 und 2024 506.

Auch Basel-Stadt meldet eine Zunahme. Aus diesem Kanton liegen Nau.ch allerdings nur die von der KESB verordneten Heimplatzierungen vor.

Freiburg stellt keine «wesentliche» Veränderung fest: Die Zahl der in Heimen platzierten Minderjährigen ist von 248 im Jahr 2021 auf 272 im Jahr 2024 gestiegen.

Nicht zugenommen hat die Zahl in den Kantonen Aargau, Basel-Landschaft und Graubünden.

Fazit: Von zwölf befragten Kantonen berichten nur drei über gleichbleibende oder leicht abnehmende Zahlen. Die restlichen neun verzeichnen Zunahmen.

Was steckt dahinter?

Psychische Probleme, Corona, Asylwesen: Die Gründe

Wichtig zuerst: Die Bevölkerung ist in der Schweiz in den vergangenen Jahren stetig gewachsen.

Während vor zehn Jahren noch gut 8,3 Millionen Menschen hier lebten, wurde 2024 bereits die 9-Millionen-Marke geknackt.

Bevölkerung
Die Bevölkerung ist in der Schweiz stetig gewachsen. In einigen Kantonen der Hauptgrund für die gestiegene Zahl der Minderjährigen im Heim. (Grafik: Stand 2024) - BFS

Bern beispielsweise führt die leichte Zunahme bei den Heimplätzen allein auf diesen Faktor zurück. Doch das Bevölkerungswachstum ist längst nicht der einzige Grund für die Zunahmen.

Im Kanton St. Gallen heisst es dazu: «Wir stellen vermehrt psychische Belastungen der Kinder und Jugendlichen fest, die zu einer Platzierung führen. Die Problematiken sind oft sehr komplex und vielschichtig.»

Diese Beobachtung teilen gleich mehrere Kantone.

Eltern haben weniger Zeit für Kids

Mathias Regotz, Abteilungsleiter beim Solothurner Amt für Gesellschaft und Soziales, sagt zu Nau.ch: «Es ist festzustellen, dass Eltern – und damit auch ihre Kinder – zunehmend unter dem Druck gestiegener (eigener) Anforderungen stehen.»

Regotz verweist auf St. Gallen und die beiden Basel, die diese wachsende Zahl überforderter Eltern ebenfalls feststellen würden.

Jugendheim
Im Thurgau ist die Nachfrage nach Heimplätzen so gross, dass nicht alle platziert werden können. (Archivbild) - keystone

«Oft müssen aus finanziellen Gründen in vielen Familien beide Elternteile einer Erwerbsarbeit nachgehen.» So könnten sie weniger Zeit ihren Kindern und Jugendlichen widmen.

Hinzu kommt: Das Leben in Kleinfamilien verstärke den Druck auf die Familiensysteme.

Handys und Co. können Entwicklung stören

Und auch die Individualisierung der Gesellschaft sei ein Grund. Heute können alle ihr Leben viel stärker nach persönlichen Vorstellungen gestalten, als das noch vor wenigen Jahrzehnten der Fall war.

Das hat zwar viele Vorteile. Doch es bringt auch mit sich, dass man sich mehr Gedanken machen muss, was man genau im Leben will. Offenbar Entscheidungen, die vielen Jugendlichen schwerfallen.

Hattest du in deiner Jugend Probleme?

Doch damit nicht genug. Bekanntlich werden Smartphones, iPads und Co. heutzutage bereits von jungen Menschen rege genutzt – und auch das spielt eine Rolle.

«Expertenhearings im Kanton Solothurn haben ergeben, dass ein erhöhter Medienkonsum im frühen Alter festgestellt werden kann», sagt Regotz. Dabei sei auch festgestellt worden, «dass dieser für Entwicklungsprobleme verantwortlich sein kann.»

Der Kanton Basel-Stadt begründet die Zunahme unter anderem mit der gestiegenen Anzahl sozialer oder psychischer Probleme in Familien. «Diese Probleme haben vor allem seit Corona stark zugenommen», heisst es.

jugendliche
Im Kanton Basel-Stadt hat die Zahl der unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden gestiegen. Das wirkt sich auf die Zahl der im Heim lebenden Jugendlichen aus. (Archivbild) - keystone

Hinzu kämen zwei weitere Gründe: Einerseits gibt es im Kanton mehr unbegleitete minderjährige Asylbewerbende. Andererseits ist 2019 eine erweiterte Meldepflicht und ein erweitertes Melderecht im Kindesschutz in Kraft getreten.

Im Thurgau wurden in den letzten drei Jahren neue Heim-Angebote eröffnet, die schnell voll belegt waren. Das ist einer von mehreren Gründen, warum in der Statistik eine Zunahme ausgewiesen wird.

Walliser vermuten «verschlechterte» Erziehung als Faktor

Das Walliser Jugendamt hat neben dem Bevölkerungswachstum als gesicherten Grund noch weitere Hypothesen, wie es schreibt.

Zwei davon: «Verschlechterung des Erziehungsverhaltens der Eltern, dysfunktionale Familien». Und einen «Anstieg der unter Autismus-Spektrum-Störungen leidenden Kinder».

Eine SRF-Doku zeigte Anfang Jahr, dass immer wieder auch Scheidungen der Eltern, Gewalt, Drogenprobleme oder Schulschwänzen zu Heimplatzierungen führen.

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Ben (17) erklärt, wie er auf die schiefe Bahn geraten und im Jugendheim gelandet ist. - SRF «Impact»

Einer der darin porträtierten Jugendlichen, Ben (17), lebt im Jugenddorf Bad Knutwil LU. Er sagt, er habe immer wieder Konflikte mit Lehrpersonen gehabt. Irgendwann hatte er «keinen Bock mehr auf den Scheiss» – also tauchte er einfach nicht mehr auf.

Nationale Erfassung gefordert

Übrigens: Die Umfrage unter den Kantonen war nötig – denn bundesweite Zahlen fehlen. Auch die interkantonale Konferenz für Kindes- und Erwachsenenschutz KOKES kann dazu keine Angaben machen.

KOKES-Generalsekretärin Diana Wider betont allerdings, es wäre «dringend notwendig», dass es solche Zahlen gäbe.

Die Konferenz fordert Angaben zu allen ausserfamiliär untergebrachten Kindern. Also auch solchen, die in Pflegefamilien leben.

Ein entsprechendes Projekt ist aktuell beim Bundesamt für Justiz hängig.

Kommentare

User #5790 (nicht angemeldet)

Als ich und Nils Fiechter eine Krise hatte, haben mich meine Eltern 5 Wochen in die Ballermann Ferien geschickt.

User #1571 (nicht angemeldet)

Wer glaubt, durch Nicht-Impfen ein politisches Signal zu setzen, der liegt falsch. - Berty Rösty

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