Verhüllungsverbote stehen im Verdacht, den Grundsatz der Verhältnismässigkeit zu verletzten. Dies erfuhr der Kanton Tessin und musste nachbessern. Aber auch die Verhüllungsverbote in Frankreich und Belgien beschäftigten die Gerichte.
verschleierungsverbot
Eine verschleierte Frau. (Symbolbild) - Keystone
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Das Wichtigste in Kürze

  • Erste Erfahrungen mit einem Verhüllungsverbot machte in der Schweiz der Kanton Tessin, der 2016 das Gesetz in Kraft setzte.

Zwei Jahre später musste das Kantonsparlament beim Gesetz nachbessern, weil das Bundesgericht zwei Beschwerden teilweise guthiess.

Die Richter in Lausanne kamen in ihrem Urteil 2018 zum Schluss, dass das Tessiner Verhüllungsverbot mit den abschliessend formulierten Ausnahmeregelungen nicht verhältnismässig sei. Das Gesetz müsse um zwei Ausnahmen ergänzt werden, weil es sonst Grundrechte verletze und nicht verfassungskonform sei. So schränke ein Verhüllungsverbot an politischen Kundgebungen und Demonstrationen die Versammlungs-und Meinungsfreiheit unverhältnismässig ein, bei gewerblichen Veranstaltungen und kommerzieller Werbung die Wirtschaftsfreiheit.

2019 teilte die Tessiner Regierung mit, sich künftig an die Vorgaben des Bundesgerichts zu halten. Die Verhüllung des Gesichts soll im Rahmen von Demonstrationen oder für gewerbliche oder Werbezwecke ausdrücklich erlaubt werden, solange die öffentliche Ordnung und die Sicherheit nicht gefährdet seien.

Nicht geprüft hatte das Bundesgericht, ob das Verhüllungsverbot mit dem Grundrecht der Glaubens- und Gewissensfreiheit vereinbar ist.

Verhandelt wurde diese Frage in Strassburg. Der Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) behandelte 2014 eine Beschwerde gegen Frankreich. Das Land führte 2011 als erster europäischer Staat ein landesweites Verhüllungsverbot ein. Im Urteil wurde festgehalten, dass Frankreichs Verhüllungsverbot weder die Meinungs- (Art. 10 EMKR) und Religionsfreiheit (Art. 9 EMRK) noch das Recht auf ein Privat- und Familienleben (Art. 8 EMRK) verletzt. Das Gericht beurteilte das Verhüllungsverbot als verhältnismässiges Mittel, um das «gesellschaftliche Zusammenleben» zu erhalten.

Drei Jahre später bestätigte das Gericht seine Haltung mit einem Urteil zum belgischen Verhüllungsverbot. Der Gerichtshof verwies im Wesentlichen darauf, dass es in der Kompetenz der einzelnen Staaten liege, diejenigen Regeln zu erlassen, die für das gesellschaftliche Zusammenleben notwendig seien.

Anders als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte beurteilte der Uno-Menschenrechtsausschuss mit Sitz in Genf das Verhüllungsverbot. Der Ausschuss warf Frankreich 2018 vor, mit dem Verhüllungsverbot Menschenrechte zu verletzen. Der Ausschuss erklärte, er sei nicht überzeugt, dass ein Verbot des Gesichtsschleiers nötig und angemessen sei, um die Sicherheit und das friedliche Zusammenleben zu gewährleisten.

Die Stellungnahmen des Uno-Menschenrechtsausschusses sind jedoch anders als die EGMR-Urteile völkerrechtlich nicht bindend.

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