Ritalin-Boom bei Kindern – Arzt spricht von «Fehlentwicklung»
Zu viele Kinder würden von Schulen in die ADHS-Abklärung geschickt und zu schnell mit Ritalin behandelt, kritisiert ein Experte.

Das Wichtigste in Kürze
- In der Schweiz wird immer häufiger Ritalin an ADHS-Betroffene verschrieben.
- Michael von Rhein, leitender Arzt am Universitäts-Kinderspital Zürich, kritisiert das.
- Oftmals würden jedoch für andere Therapien die Zeit und Ressourcen fehlen.
Kinder mit unbehandeltem Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (kurz ADHS): Für Lehrpersonen besonders anstrengend.
So scheint es zumindest. Denn laut Michael von Rhein, leitendem Arzt der Entwicklungspädiatrie am Universitäts-Kinderspital Zürich, üben immer mehr Schulen Druck auf ADHS-Abklärungen bei ihren Kindern aus.
Die Folge: Oft werde den Kindern dann das Stimulans Ritalin verschrieben. «Das ist ganz klar eine Fehlentwicklung», sagt der Arzt.
Das passiert so häufig, dass es sich deutlich in Statistiken der letzten Jahre abzeichnet. Seit 2020 nimmt die Anzahl verschriebener ADHS-Medikamente jährlich um 15 bis 18 Prozent zu. In nur drei Jahren ist die Verschreibungsrate in der Schweiz um 50 Prozent gestiegen.
Ergotherapie oder Psychoedukation statt Ritalin
«Diese Zunahme findet in einem Ausmass statt, das mir teilweise tatsächlich Sorgen macht», sagt Von Rhein gegenüber dem «Tagesanzeiger». Er ist nebst seiner Tätigkeit im Kinderspital Zürich Mitglied der Expertengruppe ADHS des Bundes.
Auf eine erhöhte Häufigkeit von ADHS sei die vermehrte Ritalin-Verschreibung nämlich kaum zurückzuführen. Stattdessen würden wohl Medikamente verschrieben, wo es eigentlich noch nicht zwingend nötig sei.
«Es gibt eine ganze Reihe anderer möglicher Massnahmen wie Ergotherapie oder Psychoedukation, die vorher ausprobiert werden sollten», sagt Von Rhein. Erst wenn diese Behandlungen scheitern würden, seien in den Leitlinien Medikamente vorgesehen.
Von Rhein beobachte jedoch immer häufiger, dass nach einer ADHS-Diagnose sehr schnell auch «die Frage nach Medikamenten» gestellt werde. Die Diagnosen ihrerseits würden ausserdem zunehmen, da «vonseiten der Schulen grosser Druck ausgeübt wird, Kinder in Abklärungen zu schicken».
Zeit und Ressourcen fehlen
«Ich will aber nicht die Schuld auf die Schulen abwälzen», stellt der ADHS-Experte klar. Schliesslich seien dort heute extrem viel Druck und hohe Leistungsanforderungen vorhanden – «auch für die Lehrkräfte».
Das Problem: Laut Von Rhein gibt es zu wenig Zeit und Ressourcen für anderweitige Therapien. So etwa Beratungsstunden, Gespräche beim Kinderarzt, schulpsychologische Beratungen oder Elternkurse.
«Wenn es davon zu wenig gibt, kann ich nachvollziehen, wenn man dann zu Medikamenten greift», sagt der Arzt. «Medikamente sind eben leicht verfügbar, andere Massnahmen oftmals weniger.»
Von Rhein fordert mehr Ressourcen für Therapien und Schulen
Ob die Behandlung von ADHS mit Medikamenten einfacher sei, konnte der leitende Arzt nicht sagen. Von Rhein äussert jedoch klar: «Ich würde mir wünschen, dass bei den Medikamenten die Quote niedriger läge und deren Einsatz schwerpunktmässig bei Patienten mit einem hohen Leidensdruck erfolgen würde.»

Damit dies möglich werde, sollten die jedoch die anderen Therapiemöglichkeiten laut Von Rhein ausgebaut werden.
Und: «In den Schulen sollte die Variabilität von Persönlichkeit und Verhaltensweisen besser toleriert werden. Dafür müsste aber die Politik den Schulen letztlich mehr Ressourcen zur Verfügung stellen.»