In diesem Kanton wird am meisten Ritalin verschrieben
Vor allem Buben und junge Männer bekommen immer mehr Ritalin verschrieben. Der Kanton Neuenburg ist Spitzenreiter – im Tessin ist ADHS hingegen kaum Thema.

Das Wichtigste in Kürze
- In der Schweiz bekommen immer mehr Menschen ADHS-Medikamente verschrieben.
- Rund vier Prozent der Schulkinder erhalten via Grundversicherung Ritalin und Co.
- Im Kanton Neuenburg ist der Anteil der Kinder, die ADHS-Medikamente erhalten, am höchsten.
In der Schweiz werden immer mehr ADHS-Medikamente verschrieben. Das zeigen Zahlen des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums (Obsan) von 2023.
Am meisten Ritalin bekommen Buben und junge Männer verschrieben. Sie sind auch am stärksten von dem Anstieg betroffen, wie «Tamedia» berichtet.
Wie viele Schulkinder mit ADHS-Medikamenten tatsächlich behandelt werden, lässt sich allerdings nur schätzen. Denn es gibt hierzulande nur Zahlen zu Verschreibungen in der Gesamtbevölkerung.
Buben bekommen öfter ADHS-Medikamente
Eine grobe Schätzung hat ergeben, dass rund vier Prozent der Kinder im Schulalter ADHS-Medikamente erhalten dürften. Bei den Buben sind es 5,5 Prozent, bei den 11- bis 15-jährigen Jungs sogar elf Prozent.
Grundlage dieser Schätzung sind die über die Grundversicherung abgerechneten ADHS-Medikamente. Bei einem Prozent der Betroffenen zahlt jedoch die Invalidenversicherung (IV) die Medikamente.
Darüber hinaus zeigen die Daten lediglich, wie viele ADHS-Medikamente abgegeben wurden. Inwiefern diese auch tatsächlich eingenommen werden, lässt sich nicht ableiten.
Im Kanton Neuenburg erhalten am meisten Kinder und Jugendliche ADHS-Medikamente. Schon seit Jahren werden über 6 Prozent der Schulkinder mit Ritalin und ähnlichen Medikamenten behandelt, die Tendenz geht gegen 7 Prozent.
Der Anteil der Buben beträgt dabei über 9 Prozent. Bei der am stärksten behandelten Altersgruppe der 11- bis 15-Jährigen liegt der Anteil gar bei 18 Prozent.
Das Gesundheitsamt des Kantons sagt dazu: «Unserer Ansicht nach ist diese höhere Rate einfach auf eine bessere Erkennung der Krankheit und eine höhere Akzeptanz der Medikamente zurückzuführen.»
Engagierte Kinderärzte hätten bereits ab Ende der 1990er-Jahre damit begonnen, Eltern, Lehrer und andere Ärzte über ADHS aufzuklären. Sie seien für die höheren Verschreibungszahlen im Kanton Neuenburg verantwortlich.
Ein Mitglied der Expertengruppe ADHS bestätigt dies gegenüber «Tamedia». In Neuenburg sei die Versorgung mit ADHS-Medikamenten besser als in der restlichen Schweiz.
Tessin verschreibt am wenigsten Ritalin
Während Neuenburg bei der Verschreibung von ADHS-Medikamenten der Spitzenreiter ist, ist das Tessin das Schlusslicht.
Im Vergleich zum Kanton Neuenburg bekommen rund achtmal weniger Kinder in der Altersgruppe bis 18 Jahren Psychostimulanzien verschrieben. Das Tessin liegt auch deutlich unter dem Schweizer Durchschnitt.

Problematisch findet man das im Südkanton jedoch nicht. «Ich denke nicht, dass wir zu wenig ADHS-Medikamente verschreiben», sagt Kantonsapotheker Giovan-Maria Zanini.
Es gebe zwar «sicher» auch den Einfluss Italiens. Dort seien Ritalin und ähnliche Medikamente sehr umstritten. Allerdings gebe es auch kaum Lehrpersonen, die mehr Behandlungen bei Kindern fordern würden. Auch bei den Ärzten sei ADHS kaum ein Thema.
Soziologe: ADHS-Häufigkeit keine feste Grösse
Die erwartete Häufigkeit der Entwicklungsstörung liegt einem Konsenspapier des ADHS-Weltverbands von 2021 zufolge bei Jugendlichen bei 5,9 Prozent.
Soziologe Pascal Rudin, ebenfalls Mitglied der Expertengruppe ADHS, hat sich jahrelang wissenschaftlich mit der Entwicklungsstörung beschäftigt.
Er sagt: «Die Häufigkeit, mit der ADHS-Medikamente heute eingesetzt werden, liegt deutlich über dem, was die Ärzteschaft während Jahrzehnten als sinnvoll bezeichnet hat.»
Lange war man der Ansicht, dass nur bei rund der Hälfte der diagnostizierten ADHS-Fälle eine Behandlung mit Medikamenten sinnvoll ist. Inzwischen habe es den Anschein, als werde praktisch jeder diagnostizierte Fall mit Ritalin oder ähnlichen Medikamenten therapiert.
Rudin betont aber, die Häufigkeit von ADHS in der Bevölkerung sei keine feste Grösse. Die verfügbaren Zahlen lassen nicht erkennen, ob ADHS in den letzten Jahren zugenommen hat, oder ausschliesslich vermehrt medikamentös therapiert wird.
Der Soziologe hält fest: «Die Entwicklungsstörung ist als Spektrums-Erkrankung definiert. Das heisst, es gibt keine harte Grenze, ab der eine Diagnose gestellt oder mit Psychostimulanzien behandelt werden soll.»