Ein Patient wurde in einer Berner Psychiatrie sechs Tage lang festgebunden. Mit der Massnahme hat er Verständnis, nicht aber mit der Dauer.
Psyhciatrien
In Schweizer Psychiatrien werden immer häufiger Zwangsmassnahmen eingesetzt. - keystone

Das Wichtigste in Kürze

  • In einer Berner Psychiatrie wurde ein Patient sechs Tage lang festgebunden.
  • Anschliessend kam er fast direkt wieder in die Freiheit.
  • Allgemein nehmen Zwangsmassnahmen in Schweizer Psychiatrien zu.
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Psychiatrische Kliniken werden aufgesucht, damit es einem anschliessend besser geht. Doch nicht immer ist das auch der Fall, wie SRF Investigativ berichtet. Bei Chrigu sind es die Zwangsmassnahmen, die schädlich sind.

Im August 2023 weist sich der 18-Jährige selber ins Psychiatriezentrum Münsingen in Bern ein. Er trinkt viel, nimmt Drogen, tendiert zu Gewaltausbrüchen, hat schon einen Raubüberfall verübt. Er hat eine akute psychotische Störung, Symptome von Schizophrenie, leidet an Verfolgungswahn und hört Stimmen.

Münsingen
Hier, im Psychiatriezentrum Münsingen, wies sich Chrigu selbst ein, anschliessend galt er wegen seiner Aggressivität als zwangseingewiesen. - keystone

In der Klinik artet es aus, als Chrigu auf ein Medikament warten muss, er wird wütend und aggressiv. Ein Pfleger schickt ihn nach draussen. Zuerst mit einem Holzbrett, dann mit einem Stein schlägt Chrigu auf die Glastüre ein und verschafft sich Zutritt zum Gebäude.

In den Unterlagen der Klinik steht, Glassplitter seien auf die Pflegenden und Patienten gefallen. Sie hätten sich verängstigt in Zimmern eingesperrt. Schliesslich wird Chrigu von der Polizei ins Zimmer gebracht und mit Gurten am Bett angebunden. Zudem erhält er Medikamente.

Diese beiden Zwangsmassnahmen sind nur erlaubt, wenn eine Person zwangseingewiesen wird. Im Fall von Chrigu wurde ein Rückbehalt ausgestellt. Damit galt er ab dem Tag der Eskalation als zwangseingewiesen. Dadurch waren die Fixierung und Zwangsmedikation rechtens.

Psychiatrie
Bei der Fixierung wird ein Patient mit Gurten an Händen, Füssen und über die Brust an ein Bett gebunden. (Symbolbild) - keystone

Sechs Tage lang war er festgebunden und bekam Medikamente. Einzig, um begleitet zur Toilette zu gehen, wurden die Gurte gelöst. An Tag 6 wurde die Fixierung beendet – und an Tag 7 wurde Chrigu entlassen.

Entlassung nach Fixierung entbehrt «jeglicher Logik»

Die Klinik erklärt dies in der Akte damit, dass es keinen Therapieauftrag mehr gegeben habe. Auch habe keine akute Selbst- oder Fremdgefährdung bestanden. Für Rechtsanwalt Jürg Gassmann entbehrt sich die Freilassung nach tagelanger Fixierung aber «jeglicher Logik».

Chrigu beschreibt seinen Klinikaufenthalt als traumatisch: «Ich ging freiwillig in die Klinik, damit es mir besser geht.» Doch die lange Fixierung habe ihn «kaputt gemacht». Er sei geschädigter rausgekommen, als er in die Klinik reingegangen sei.

Gegen die Fixierung hat er nichts, er sehe ein, dass sie wegen seiner Aggressivität unumgänglich gewesen sei. Die Dauer sei aber viel zu lange gewesen. Und auch die Medikamente hätten es schlimmer gemacht: «Ich konnte mich nicht mehr artikulieren.»

Zwangsmassnahmen nehmen zu

Chrigu ist nicht der Einzige: Rund jeder zehnte Patient in einer psychiatrischen Klinik erfährt mindestens eine Zwangsmassnahme. Dazu zählen Isolation, Fixierung und Verabreichung von Medikamenten gegen den eigenen Willen.

Und auch bei Zwangseinweisungen gibt es einen zunehmenden Trend. Ladina aus Zürich beispielsweise wurde während einer akuten psychischen Krise zwangseingewiesen.

Ihre Gedanken wurden immer negativer und destruktiver. Ihr Vater brachte sie in ein Spital, der Arzt schätzt sie als suizidgefährdet ein. Er weist sie in eine psychiatrische Klinik ein. Sie habe kein Mitspracherecht gehabt, keine Kontrolle, sagt Ladina.

Mussten Sie schon einmal in eine psychiatrische Klinik?

Gegen den stationären Klinikaufenthalt an sich hatte sie nichts. Sie hätte aber lieber zuerst mit ihrer Therapeutin Rücksprache genommen. So hätte man gemeinsam entscheiden können, was das Beste für sie sei.

In der Klinik war sie dann sechs Tage, wurde aber «mehrheitlich ignoriert», wie sie erzählt. Ausser Visiten hätte es keine Gespräche gegeben.

Und so hinterlässt die fürsorgerische Unterbringung bis heute Spuren: Ladina hat Angst vor geschlossenen Räumen. Sie müsse immer wissen, dass sie wieder rauskomme, dass sie nicht eingesperrt sei.

Nackt ausgezogen und Haare abgeschnitten

Noch extremer ist der Fall von Nadia, die mit 23 Jahren freiwillig in die Luzerner Psychiatrie geht. Sie leidet an Depression, einer Borderlinestörung und einer instabilen Persönlichkeitsstörung. Weil in der Klinik zu allem immer Nein gesagt wurde, sei sie immer wütender und verzweifelter geworden. Es habe in einem Suizidversuch gegipfelt, erzählt sie.

Nach dem Spitalaufenthalt kam sie zurück in die Klinik und sofort in ein Isolationszimmer – gegen ihren Willen. Ihr sei die Kleidung ausgezogen worden und nur mit BH bekleidet habe man sie zurückgelassen.

In ihrer Akte steht, sie habe dann versucht, sich mit den Haaren zu strangulieren. «Um Aufmerksamkeit zu bekommen», sagt sie.

Anschliessend werden ihr die Haare abgeschnitten, der BH ausgezogen und man fixiert sie auf dem Bett. Sie kann sich aber losreissen. Nun kommt sie in ein normales Zimmer und wird 1:1 betreut, was eigentlich die erste Massnahme ist. Ein Tag später wird sie entlassen.

Rechtsanwalt: Haare abschneiden ist nie erlaubt

Rechtsanwalt Gassmann kritisiert das Vorgehen der Klinik: Es habe die Rechtsgrundlage gefehlt, da Nadia freiwillig dort war und es keinen Rückbehalt gab. Zudem sei es nie erlaubt, die Haare der Patienten abzuschneiden – auch nicht bei zwangseingewiesenen.

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