Neue Zahlen zeigen: In Schweizer Psychiatrien wird immer häufiger zu Zwangsmassnahmen gegriffen. Personalmangel und fehlende Notfallstrukturen sind der Grund.
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Die Anwendung von Zwangsmassnahmen nehmen in Schweizer Psychiatrien zu. - Keystone

Das Wichtigste in Kürze

  • Das Personal in psychiatrischen Kliniken greift immer häufiger zu Zwangsmassnahmen.
  • Fehlendes Personal und zu wenig Ressourcen kristallisieren sich als Gründe heraus.
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Schweizer Psychiatrien greifen immer häufiger zu Zwangsmassnahmen an Patientinnen und Patienten. Dazu kann eine Einweisung in eine Klinik, die Isolation in einem Zimmer oder Zwangsmedikation gehören.

Wie SRF kürzlich berichtete, kritisieren Assistenzärzte der psychiatrischen Universitätsklinik Bern die Zunahme dieser «vermeidbaren» Praktiken. Grundsätzlich erfolgen Zwangsmassnahmen, wenn eine akute Selbst- oder Fremdgefährdung besteht. Daher dürfen sie nur als letzter Ausweg eingesetzt werden.

Die Schweiz ordnet sich im internationalen Vergleich ganz oben ein, wenn es um Zwangseinweisungen geht: 14'500 Personen wurden im Jahr 2019 unfreiwillig in eine Klinik eingewiesen, wie ein Positionspapier der Stiftung Pro Mente Sana zeigt.

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Zwangsmassnahmen sollten nur als letzter Ausweg eingesetzt werden. - Keystone

Im Vergleich zum Jahr 2019 hat sich die Anzahl angewendeter Zwangsmassnahmen von 9,4 Prozent auf 11,5 Prozent erhöht. Das geht aus neusten Zahlen des Nationalen Vereins für Qualitätsentwicklung in Spitälern und Kliniken (ANQ) hervor. Hierbei wurden Daten von 83'067 stationär behandelten Patientinnen, Patienten und 4566 Kindern und Jugendlichen ausgewertet.

«Nachwuchsproblem» in Schweizer Psychiatrien

Eine Erklärung dieses Anstiegs sieht der Psychiater Paul Hoff bei dem Personalmangel. Er ist Präsident der Zentralen Ethikkommission (ZEK) der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW). 20 Jahre lange war Hoff als Chefarzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (PUK) tätig.

Gegenüber dem «Tagesanzeiger» sagt er: «Wir haben in der Psychiatrie seit Jahren ein Nachwuchsproblem.» Je höher der Personalmangel sei, desto höher das Risiko, dass Zwang eingesetzt werde, so Hoff.

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Auf so einem Bett werden Patientinnen und Patienten in der Psychiatrie Rheinau ZH fixiert. - Keystone

Wenn das Personal in grossen Schweizer Kliniken dünn besetzt ist, werden Patientinnen und Patienten häufiger zum Selbstschutz isoliert. Denn mehrere Menschen treten in grossen Schweizer Kliniken pro Tag per Zwangseinweisung ein. Wenn genügend Personal da ist, könne sich ein Assistenzarzt oder eine pflegerische Bezugsperson um die Betroffenen kümmern – ohne Zwangsmassnahmen.

«Um Zwang als Mittel einzusetzen, braucht es einen verdammt guten Grund», erklärt Hoff. Es gelte das Prinzip, dass Zwang immer eine Notlösung und niemals ein «normaler» Bestandteil psychiatrischen Arbeit sei. Aber: «Um dieses Prinzip korrekt anzuwenden, braucht es Ressourcen und ausgebildetes Personal.» Laut Hoff haben aber fast alle psychiatrischen Kliniken Probleme bei der Rekrutierung ihres Personals.

Befürworten Sie den Einsatz von Zwangsmassnahmen in Psychiatrien?

Auch fehlende ambulante Stellen für psychiatrische Krisen und Notfälle befeuern die Problematik. Zwangseinweisungen kämen weniger zur Anwendung, wenn mehr solche Strukturen bestehen würden, erklärt der ehemalige Chefarzt.

Pro Mente Sana, das Bundesamt für Justiz sowie auch die Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften sehen einen Handlungsbedarf. «Wir müssen den Spagat schaffen und einen guten, also ethisch wie rechtlich vertretbaren Umgang mit Zwangsmassnahmen finden», so Hoff. Denn sie werden weder aus der Psychiatrie noch aus der sonstigen Medizin vollständig verschwinden.

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