ETH-Studie: Eine von 100 Personen wird aus Zürich verdrängt
Ein ETH-Forscher-Team hat eine Studie zu Bautätigkeit und Verdrängung veröffentlicht. Die Hauptautorin der Studie erklärt, warum Zürich nicht gut wegkommt.

Das Wichtigste in Kürze
- Eine Studie zeigt, dass in Zürich über fünf Jahre jede hundertste Person verdrängt wurde.
- In anderen Schweizer Städten, etwa Genf, geschah dies nicht.
- Studienautorin Fiona Kauer betont, dass die Voraussetzungen nicht überall gleich sind.
Tsüri.ch: Frau Kauer, Ihre Studie hat die fünf grössten Schweizer Agglomerationen Zürich, Basel, Bern, Genf und Lausanne verglichen.
In Zürich wurde im Zeitraum von 2015 bis 2020 jede hundertste Person verdrängt, in Genf war es zur gleichen Zeit bloss jede tausendste. Was macht Zürich falsch?
Fiona Kauer: Raumplanerische Strategien sind gefragt. Beispielsweise könnten Aufstockungen stärker gefördert werden, so wie in Genf, und auch die Förderung von gemeinnützigem Wohnraum ermöglicht die Schaffung von bezahlbarem Wohnraum.
So bleibt es vielen unterschiedlichen Menschen möglich, in die Stadt zu ziehen oder dort zu bleiben.

Tsüri.ch: Wer leidet am stärksten unter dieser Entwicklung?
Kauer: In Zürich sind insbesondere Personen mit tiefen Einkommen von Verdrängung betroffen. Ausserdem sind Asylsuchende, anerkannte Geflüchtete und Personen mit afrikanischem Geburtsland überproportional betroffen.
Verdrängte Personen hatten im Schnitt 30 bis 40 Prozent tiefere Einkommen als die Gesamtbevölkerung, Neuzuzügerinnen und Neuzuzüger in Neubauten haben im Schnitt 15 bis 39 Prozent höhere Einkommen als die Gesamtbevölkerung.
Tsüri.ch: Ihre Studie hat auch gezeigt, dass es in Lausanne und Genf höhere Bautätigkeit und weniger Verdrängung gibt. Was kann Zürich von diesen Städten lernen?
Kauer: Wir müssen beachten, dass die Ausgangslagen in diesen Agglomerationen sehr unterschiedlich sind.
In Lausanne und Genf gab es bis vor Kurzem noch Baulandreserven und ehemalige Industriezonen, die mit verdichtetem Wohnraum erschlossen werden konnten.
Bei dieser Art von Verdichtung müssen keine Wohngebäude abgebrochen werden, also verliert auch niemand seine Wohnung.
Tsüri.ch: Zürich hingegen hat kaum noch Baulandreserven oder umnutzbare Industriezonen.
Kauer: Genau. Industrieflächen, die infrage gekommen sind, wurden bereits eingezont und meist auch bebaut.
Andere Umzonungen würden auf Kosten von Grünflächen gehen, was ökologisch wenig sinnvoll ist. So gibt es nur noch wenige Möglichkeiten, um durch Umnutzungen zu verdichten.
Tsüri.ch: Dann bleibt Zürich als Lösung nur noch die Innenverdichtung übrig?
Kauer: Aufstockungen oder bei Ersatzneubauten konsequent mehr Wohnungen errichten, sind zwei Möglichkeiten zur Verdichtung.
In Genf gibt es deutlich mehr Aufstockungen als Ersatzneubauten. Auch diese schaffen mehr Wohnraum, sind ökologisch nachhaltiger und Mieterinnen sowie Mieter können im Gebäude bleiben, es geht keine Wohnfläche verloren.
Tsüri.ch: In anderen Städten entstehen durch Ersatzneubauten mehr Wohnungen, woran liegt das?
Kauer: Das liegt auch daran, dass in Zürich häufig Mehrfamilienhäuser durch Mehrfamilienhäuser ersetzt werden. Und natürlich spielt es auch eine Rolle, wie viele Stockwerke dann gebaut werden.
In Genf wurden bei Ersatzneubauten oftmals Einfamilienhäuser durch grössere Gebäude mit mehreren Wohneinheiten ersetzt.
Es wurde also stärker verdichtet und dank eines Umbaus in Etappen konnten Mieterinnen und Mieter in der Siedlung wohnen bleiben.

Tsüri.ch: Die Ausgangslage für Verdichtung ohne Verdrängung ist in Zürich also nicht so einfach. Lässt sich der Stadt gar kein Vorwurf machen?
Kauer: Ein relevanter Faktor ist, wie aktiv die Raumplanung gesteuert wird. Da gäbe es durchaus Massnahmen, mit denen man mehr Wohnraum schaffen könnte, ohne viele Gebäude abzureissen.
Sanftere Verdichtungen wären möglich, beispielsweise durch Aufstockungen.
Tsüri.ch: Sanftere Verdichtung – was meinen Sie damit?
Kauer: In der Forschung unterscheiden wir sanfte und harte Verdichtung, Aufstockungen gelten eher als sanfte Verdichtung, weil es dadurch in der Regel nicht zu fundamentalen Veränderungen in der Nachbarschaft kommt.
Ersatzneubauten gelten als harte Verdichtung, da es dort meist zu stärkeren Veränderungen des Nachbarschaftscharakters kommt.
Tsüri.ch: Gemäss der Studie waren sowohl das Wachstum der Wohnungen als auch der Wohnfläche in der Stadt Zürich als einziges rückläufig. In Basel, Bern, Lausanne und Genf waren diese Zahlen deutlich positiv, woran liegt das?
Kauer: Wir haben in der Studie die Periode von 2020 bis 2023 mit der Periode von 2000 bis 2004 verglichen.
Es sind zwar auch in Zürich neue Wohnungen entstanden und die Wohnfläche ist gewachsen, doch das Wachstum war kleiner als von 2000 bis 2004. Das liegt auch an den vielen Abbrüchen von Mehrfamilienhäusern, die es gegeben hat.
Tsüri.ch: Wie sind Sie bei der Studie genau vorgegangen?
Kauer: Es gibt Datensätze vom Bundesamt für Statistik, das Gebäude- und Wohnungsregister. Darin sind alle Gebäude schweizweit aufgelistet, gemeinsam mit den dazugehörigen Charakteristiken.
Über die Gebäudenummer lassen sich diese Datensätze mit anderen Datensätzen verknüpfen, beispielsweise mit personenbezogenen Daten aus der Statistik der Bevölkerung und der Haushalte.
Da kommt jede Person vor, die in der Schweiz angemeldet ist. So lässt sich auch analysieren, wer vor und nach einem Ersatzneubau in einem Gebäude gelebt hat.
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Hinweis: Dieser Artikel ist zuerst bei «Tsüri.ch» erschienen. Autor Dominik Fischer ist Redaktor beim Zürcher Stadtmagazin.