Polnisches Verfassungsrecht oder EU-Recht - was geht vor? Für die EU-Kommissionschefin und die Opposition in Warschau ist die Antwort auch nach dem Urteil des polnischen Verfassungsgerichts eindeutig.
Das Verfassungsgericht in Warschau hat entschieden, dass mehrere Artikel der EU-Verträge nicht mit der polnischen Verfassung vereinbar seien. Foto: Radek Pietruszka/PAP/dpa
Das Verfassungsgericht in Warschau hat entschieden, dass mehrere Artikel der EU-Verträge nicht mit der polnischen Verfassung vereinbar seien. Foto: Radek Pietruszka/PAP/dpa - dpa-infocom GmbH
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Das Wichtigste in Kürze

  • Die EU-Kommission will den Vorrang des EU-Rechts nach dem umstrittenen Urteil des Verfassungsgerichts in Polen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln durchsetzen.

«Wir werden die Grundprinzipien der Rechtsordnung unserer Union wahren», sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Freitag in Brüssel. «EU-Recht hat Vorrang vor nationalem Recht, einschliesslich der Verfassungsbestimmungen.» Dazu hätten sich alle EU-Staaten als Mitglieder der EU verpflichtet. «Wir werden alle Befugnisse nutzen, die wir unter den Verträgen haben, um dies sicherzustellen.» Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki machte indes klar: Unser Platz ist in der EU.

Hintergrund ist das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts, das am Donnerstag entschieden hatte, dass Teile des EU-Rechts nicht mit der polnischen Verfassung vereinbar seien. Dies stellt einen Eckpfeiler der europäischen Rechtsgemeinschaft in Frage.

«Diese Entscheidung legt die Axt an die Säulen, auf denen die Europäische Union ruht», kommentierte der Deutsche Richterbund. Es dürfte den Konflikt zwischen Brüssel und Warschau um die Reform des polnischen Justizsystems weiter anheizen. Die Brüsseler Behörde hatte bereits im September finanzielle Sanktionen gegen Polen vor dem Europäischen Gerichtshof beantragt, weil die polnische Disziplinarkammer zur Bestrafung von Richtern trotz einer anderslautenden EuGH-Entscheidung weiter arbeitet.

Von der Leyen: Urteil gründlich analysieren

Welche konkreten Schritte die EU-Kommission nun einleiten könnte, liess von der Leyen offen. Sie habe die Dienste der Brüsseler Behörde angewiesen, das Urteil gründlich und zügig zu analysieren, teilte die deutsche Politikerin mit. Auf dieser Grundlage werde man über nächste Schritte entscheiden. Denkbar wäre zum Beispiel die Einleitung eines weiteren sogenannten Vertragsverletzungsverfahrens.

Polens nationalkonservative PiS-Regierung baut das Justizwesen seit Jahren um. Die EU-Kommission hat wegen der Reformen bereits mehrere Vertragsverletzungsverfahren gegen Warschau eröffnet und Klagen beim EuGH eingereicht. Unter anderem hat die Brüsseler Behörde auch Zweifel an der Unabhängigkeit des polnischen Verfassungsgerichts, welches nun das Urteil fällte.

Der deutsche Aussenminister Heiko Maas (SPD) forderte Polen zur Einhaltung von EU-Recht auf. «Wenn ein Land sich politisch dafür entscheidet, Teil der EU zu sein, muss es auch dafür Sorge tragen, die vereinbarten Regeln voll und ganz umzusetzen», sagte er den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Deutschland unterstütze die EU-Kommission in ihrem Bestreben, dem europäischen Recht überall in der EU Geltung zu verschaffen.

Auch das deutsche Bundesverfassungsgericht hatte sich im Mai 2020 erstmals gegen ein EuGH-Urteil gestellt, indem es milliardenschwere Anleihekäufe der Europäischen Zentralbank beanstandete. Polens Regierung deutet dieses Urteil in ihrem Sinne. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht nie den grundsätzlichen Vorrang von EU-Recht infrage gestellt. Karlsruhe behält sich lediglich in bestimmten, sehr seltenen Fällen die Letztkontrolle vor.

Morawiecki: Polen bleibt in der EU

Vertreter der polnischen Opposition werteten das Urteil vom Donnerstag nun als Zeichen dafür, dass die PiS Polen aus der EU führen will. Dem widersprach Regierungschef Mateusz Morawiecki. «Polens Platz ist und bleibt in der europäischen Völkerfamilie», schrieb er auf Facebook. Der Beitritt Polens und der mitteleuropäischen Länder zur EU sei einer der Höhepunkte der vergangenen Jahrzehnte gewesen - für Polen wie auch die EU. «Wir alle haben dabei gewonnen.»

Polens Ministerpräsident verwies weiter darauf, dass das Urteil bestätigt habe, was sich aus der Verfassung ergebe: Dass das polnische Verfassungsrecht anderen Rechtsquellen überlegen sei. Das hätten in den vergangenen Jahren auch die Verfassungsgerichte anderer Mitgliedsstaaten bestätigt. Morawiecki betonte, dass Polen die gleichen Rechte wie andere Länder habe und möchte, dass diese respektiert werden.

Der ehemalige EU-Ratspräsident und polnische Oppositionsführer Donald Tusk rief unterdessen zu Protesten gegen das umstrittene Urteil auf. «Ich rufe alle, die ein europäisches Polen verteidigen wollen, dazu auf, am Sonntag um 18.00 Uhr auf den Schlossplatz in Warschau zu kommen», schrieb er auf Twitter. «Nur gemeinsam können wir sie stoppen.» Tusk ist kommissarischer Vorsitzender von Polens grösster Oppositionspartei, der liberalkonservativen Bürgerplattform.

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