Die friedlichen Proteste gegen die französische Rentenreform sind in teils sehr gewalttätige Ausschreitungen umgeschlagen. Geht es dabei wirklich nur noch um Beitragsgrenzen und Renteneintrittsalter?
Proteste in Frankreich: Demonstranten stossen in Lyon mit Polizisten zusammen.
Proteste in Frankreich: Demonstranten stossen in Lyon mit Polizisten zusammen. - Laurent Cipriani/AP/dpa

Frankreich ist wütend. Die friedlichen Proteste zu Jahresbeginn gegen die Rentenreform haben sich zum Flächenbrand entwickelt. Deutschlands Nachbarland diskutiert nun auch über Polizeigewalt gegen Demonstranten, eine Missachtung der Demokratie und einen Rücktritt der Regierung. Die Abgeordnete Aurore Bergé berichtete auf Twitter über Todesdrohungen gegen sie und ihr vier Monate altes Baby, weil sie für die Rentenreform stimmte. Wie konnte es so weit kommen?

Schon seit Jahresbeginn haben die Gewerkschaften wiederholt zu Streiks und Demonstrationen gegen die inzwischen verabschiedete Rentenreform aufgerufen, die sie als brutal und ungerecht brandmarken. Die Regierung unter Präsident Emmanuel Macron hält sie aber für nötig, um ein drohendes Loch in der Rentenkasse zu stopfen. Deswegen soll das Renteneintrittsalter von 62 auf 64 Jahre angehoben werden. Tatsächlich beginnt der Ruhestand im Schnitt später: Wer für eine volle Rente nicht lange genug eingezahlt hat, arbeitet länger. Mit 67 gibt es dann unabhängig von der Einzahldauer Rente ohne Abschlag – dies will die Regierung beibehalten, auch wenn die Zahl der nötigen Einzahljahre für eine volle Rente schneller steigen soll.

Die Streik- und Protesttage verliefen wochenlang überwiegend friedlich. Doch seit die Regierung die umstrittene Reform vergangene Woche ohne Abstimmung durch die Nationalversammlung geboxt hat, kommt es zu immer mehr Gewalt. Die Tür des Rathauses von Bordeaux wurde in Brand gesteckt, die Bürgermeisterin von Rennes prangerte «Szenen des Chaos» in ihrer Stadt an. Einer Demonstrantin wurde in Rouen der Daumen abgerissen, in Lorient wurde eine Polizeistation angegriffen und ein Gewerkschaftsaktivist wurde in Paris schwer am Auge verletzt. Tonaufnahmen zeigen laut Berichten von franceinfo, wie eine Polizeitruppe Demonstranten einschüchtert und schlägt.

Internationale Beobachter sind besorgt

Auch internationale Beobachter sind besorgt über die Eskalation bei den Protesten. Der Europarat zeigte sich alarmiert angesichts der Gewalt und forderte den Schutz der Versammlungsfreiheit.

Dass Macron am Freitag nun den Besuch des britischen Königs Charles III. abgesagt hat, könnte ein Zeichen dafür sein, dass er die Kontrolle verloren hat. Zumindest sollte es wohl ein Signal nach innen sein, dass er sich mit dem Frust der Menschen beschäftigt, anstatt sich im Königsglanz zu sonnen.

Aber reicht das? Für Dienstag sind die nächsten Streiks und Demonstrationen geplant. Die Gewerkschaften kündigten grosse Aktionen an, die Stimmung ist aufgeheizt.

Wie es danach weitergeht, ist unklar. Möglich wäre ein nationales Referendum gegen das Vorhaben. Die Reform ist verabschiedet, liegt zur Prüfung aber beim Verfassungsrat. Noch steht nicht fest, wann dieser entscheidet. Macron will, dass die Reform bis zum Jahresende in Kraft tritt.

Laurent Berger von der Gewerkschaft CFDT fordert dagegen, das Vorhaben auf Eis zu legen. Macron sagte daraufhin beim EU-Gipfel in Brüssel, er sei offen für Gespräche mit den Gewerkschaften – über alle möglichen Themen mit Arbeits- und Sozialbezug, aber nicht über die Reform. Macron hält bislang erbittert an seinem Schlüsselprojekt fest, so scheint es. Der kommunistische Politiker Fabien Roussel sagte dem Sender RMC, Macron hoffe womöglich, dass die friedliebenden Bürger auf seine Seite umschwenken. «Ich frage mich, ob Macron nicht alles versucht, um die Bewegung zu radikalisieren und die öffentliche Meinung gegen die Demonstrationen zu wenden – und das ist ernst.»

Parallelen zur Gelbwestenbewegung 2018

So manche Beobachter sehen Parallelen zur Gelbwestenbewegung 2018 und 2019. Damals war die Erhöhung von Steuern auf Kraftstoff der Auslöser für umfangreiche Sozialproteste. Macron beruhigte die Unruhen teilweise mit einer nationalen Bürgerdebatte. «Emmanuel Macron versucht, seine Wählerbasis zu retten, aber auch seine alternative Mehrheit, die puzzleartig zersplittert ist», analysierte der Politologe Benjamin Morel bei franceinfo.

Ob ihm das gelingen wird? Gewinnerin des aktuellen Chaos scheint eher jemand anderes zu sein: Marine Le Pen. In einer aktuellen Umfrage der Sonntagszeitung «Le Journal du Dimanche» macht ihre rechtsnationale Partei Rassemblement National (RN) gerade einen grossen Sprung nach vorne. Würde kommenden Sonntag gewählt, wäre der RN auf dem ersten Platz gleichauf mit dem Linksbündnis Nupes. Macrons Partei Renaissance wäre nur noch auf dem dritten Platz.

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