Gaza-Ärztin verliert bei Luftangriff neun von zehn Kindern

Simon Binz
Simon Binz

Palestina,

Eine Gaza-Ärztin hat bei einem israelischen Luftangriff neun ihrer zehn Kinder verloren. Es ist eine Tragödie sondergleichen.

Gaza Israel
Ein Blick auf einen völlig zerbombten Teil des Gazastreifens. Israel führt seit knapp eineinhalb Jahren Krieg gegen die Hamas. Die Leidtragenden sind die Bewohner des Küstenstreifens. - keystone

Das Wichtigste in Kürze

  • Eine Gaza-Ärztin hat bei einem Luftangriff einen Grossteil ihrer Familie verloren.
  • Nur ihr Ehemann und ein Sohn überlebten – neun ihrer zehn Kinder starben bei dem Angriff.
  • Israel spricht von einem gezielten Angriff auf Verdächtige – zivile Oper würden geprüft.

Es ist eine Tragödie, die das Leben von Dr. Alaa al-Najjar für immer verändert hat. Die Gaza-Ärztin hatte sich letzten Freitag in den frühen Morgenstunden wie jeden Tag von ihren zehn Kindern verabschiedet, bevor sie ihr Haus verliess. Das jüngste Kind, ihre Tochter Sayden, gerade einmal sechs Monate alt, schlief zu diesem Zeitpunkt noch.

Wie jeden Tag, seit der Krieg in Gaza begonnen hat und israelische Angriffe jeweils nur wenige Meter von ihrem Viertel in Khan Younis entfernt einschlugen, machte sich die Frau grosse Sorgen, ihre Kinder zu Hause zu lassen.

Doch die 35-Jährige hatte keine andere Wahl. Sie ist eine der wenigen verbliebenen medizinischen Kräfte in Gaza und eine angesehene Kinderärztin im Nasser-Spital. Sie musste arbeiten und sich um verletzte Babys kümmern, die israelische Angriffe nur knapp überlebt hatten.

Sie hätte nie gedacht, dass dieser Abschied von ihrer Familie ihr letzter sein würde...

Wie der «Guardian» berichtet, wurde das Haus der Ärztin nur wenige Stunden später bei einem israelischen Luftangriff zerstört. Von ihren zehn Kindern überlebte nur eines, zusammen mit ihrem Vater, dem 40-jährigen Hamdi al-Najjar, ebenfalls ein Arzt.

Verbrannte, zerstückelte Leichen von Kindern aus Gebäude geborgen

«Es ist eine der herzzerreissendsten Tragödien seit Beginn des Konflikts», sagt Mohammed Saqer, der Pflegedienstleiter des Nasser-Spitals. «Und es traf eine Kinderärztin, die ihr Leben der Rettung von Kindern verschrieben hatte, nur um dann ihre Mutterschaft zu verlieren.»

Auf Filmmaterial, das der Direktor des Gesundheitsministeriums von Gaza geteilt und vom «Guardian» geprüft wurde, ist zu sehen, wie die verbrannten, zerstückelten Leichen von Kindern aus den Trümmern von Najjars Gebäude in der Nähe einer Tankstelle geborgen werden.

Ali al-Najjar, der ältere Bruder von Hamdi, Alaas Ehemann, beschreibt den tragischen Tag wie folgt: «Als ich hörte, dass das Haus bombardiert worden war, rannte ich instinktiv zu meinem Auto und fuhr dorthin, da ich wusste, dass mein Bruder und seine Kinder daheim waren.»

Als er angekommen sei, habe er mit Schock festgestellt, dass sein Neffe Adam auf der Strasse unter den Trümmern liege. «Er hatte überlebt, war russbedeckt, seine Kleidung zerrissen – aber eine Seele war noch bei ihm.»

Auch seinen Bruder, den Vater der Kinder, habe er auf der Strasse entdeckt: «Mein Bruder lag auf der anderen Seite, blutete stark aus Kopf und Brust, sein Arm war abgetrennt. Er hatte immer noch Atemnot.»

«Wir konnten die Leichen zweier Kinder noch nicht finden»

Ali rief das Ärzteteam und brachte die beiden Überlebenden ins Spital. Anschliessend begann er mit der Suche nach seinen neun vermissten Nichten und Neffen. «Das Haus war sehr schwer zu räumen, da die Decke übereinander gestapelt war. Ich suchte im Haus herum, in der Hoffnung, noch eins der Kinder zu finden, da ich annahm, dass die Bomben sie aus dem Haus geschleudert haben könnten», sagte er.

Doch dann sei leider die erste verbrannte Leiche aufgetaucht. «Nachdem wir das Feuer vollständig gelöscht hatten, fanden wir den Rest – einige waren verstümmelt, alle verbrannt.»

Mutter Alaa eilte zum Ort der Explosion, während Rettungskräfte die Leiche ihrer Tochter Revan aus den Trümmern bargen. Unter Tränen flehte sie die Rettungskräfte an, sie noch einmal in den Armen halten zu dürfen.

«Revans Körper war am Oberkörper vollständig verbrannt, von ihrer Haut oder ihrem Fleisch war nichts mehr übrig», beschreibt Ali und fügt an: «Wir konnten die Leichen zweier Kinder meines Bruders noch nicht finden: den ältesten, zwölfjährigen Jungen Yahya und das sechs Monate alte Mädchen Sayden.»

Mutter konnte verkohlte Leichen nicht identifizieren

Quellen im Nasser-Spital, die die Leichen der Kinder einzeln in die Leichenhalle brachten, sagten gegenüber dem «Guardian», ihre Mutter habe sie aufgrund der schweren Verbrennungen nicht identifizieren können.

Die Namen der Kinder waren Yahya, Rakan, Ruslan, Jubran, Eve, Revan, Sayden, Luqman und Sidra. «Alaa ging in die Leichenhalle, hielt ihre Kinder in den Armen, rezitierte den Koran über ihnen und betete für sie.» Diese Worte stammen von Dr. Ahmed al-Farra, er ist der Leiter des Kinderspitals im Nasser-Gesundheitskomplex.

«Andere Ärztinnen um sie herum brachen vor Kummer und Wut zusammen, doch Dr. Alaa blieb gelassen. Gott schenkte ihr Frieden.» Kollegen im Spital beschrieben Najjar als engagierte, höfliche und ethische Ärztin, die in der Lage sei, enormem Druck standzuhalten.

«Im Spital machte sie sich ständig Sorgen um ihre Kinder. Als sie hörte, dass ein Haus im Viertel Qizan al-Najjar bombardiert worden war, spürte ihre Mutter, dass etwas nicht stimmte», sagte Farra.

Nachdem sie sich zum letzten Mal von den leblosen Körpern ihrer sieben Kinder verabschiedet hatte, ging Alaa auf die Station, wo ihr überlebendes Kind behandelt wurde. Die Verletzungen des Sohnes reichen laut dem Spital von «mittelschwer bis schwer».

Vergleichsweise geht es dem Kind damit besser als seinem Vater, der schwere Verletzungen erlitt. Die Rede ist von Hirnschäden und Granatsplitterbrüchen sowie Splitterwunden und Brustfrakturen. Er wurde an ein Beatmungsgerät angeschlossen und mit medizinischen Schläuchen versorgt.

Israels Armee: «Gegend von Khan Younis ist ein gefährliches Kriegsgebiet»

Die israelischen Verteidigungsstreitkräfte erklärten in einem Statement, dass ein israelisches Flugzeug mehrere Verdächtige angegriffen habe, die von einem Gebäude in der Nähe von israelischen Truppen in der Gegend von Khan Younis aus operiert hätten.

Die Gegend von Khan Younis ist ein gefährliches Kriegsgebiet. Vor Beginn der Operationen evakuierte die israelische Armee Zivilisten aus diesem Gebiet zu ihrer eigenen Sicherheit. Die Behauptung, unbeteiligte Zivilisten seien zu Schaden gekommen, wird derzeit geprüft.

Nach Angaben des Gesundheitsministeriums von Gaza wurden bei israelischen Angriffen seit dem Beginn des Krieges fast 54'000 Palästinenser getötet, darunter 16'503 Kinder.

Weiterlesen

Irina Beller Hausverbot Globus
16 Interaktionen
Eklat
koch kolumne
22 Interaktionen
Daniel Koch

MEHR IN NEWS

Blatten
51 Interaktionen
Blatten VS
ubs tsüri
«Aussergewöhnlich»
Drogenring
Prahlte damit

MEHR AUS PALESTINA

Westjordanland
Siedlergewalt
Nahostkonflikt - Gaza-Stadt
6 Interaktionen
Flucht
UN
Hochkommissar
Gazastreifen
Gaza-Krieg