Einen Tag nach der Verurteilung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoglu haben sich in der türkischen Metropole Zehntausende Menschen mit ihm und anderen Oppositionspolitikern solidarisiert.
Imamoglu bei der Kundgebung in Istanbul
Imamoglu bei der Kundgebung in Istanbul - AFP
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Das Wichtigste in Kürze

  • Imamoglu: «Habe 16 Millionen Istanbuler hinter mir».

Trotz Regens versammelte sich die Menschenmenge vor dem Sitz der Stadtverwaltung, die Vorsitzenden von sechs türkischen Oppositionsparteien waren mit dabei.

Der Sozialdemokrat Imamoglu, der als ein potenzieller Rivale des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan gilt und der zu zweieinhalb Jahren Haft und Politikverbot wegen Beleidigung von Staatsbediensteten verurteilt worden war, wandte sich an die fahnenschwenkende Menge: «Ich habe (...) keine Angst vor ihrem unrechtmässigen Urteil», sagte der 52-jährige CHP-Politiker bei einer Kundgebung und fügte hinzu: «Ich habe keine Richter, die mich beschützen, aber ich habe 16 Millionen Istanbuler und unsere Nation hinter mir.» Imamoglu schloss seine Rede mit den Worten «Alles wird gut» – dem Slogan seiner erfolgreichen Kampagne für das Bürgermeisteramt im Jahr 2019.

Es war das erste Mal, dass die sechs türkischen Oppositionsparteien gemeinsam zu einer öffentlichen Kundgebung zusammenkamen, nachdem sie sich vor gut einem Jahr zu einem Bündnis gegen den islamisch-konservativen Präsidenten Erdogan zusammengeschlossen hatten. In der Türkei steht nächstes Jahr die Präsidentschaftswahl an. Erdogan steht nicht zuletzt wegen der hohen Inflation und der schlechten Wirtschaftsdaten schwer unter Druck.

Auch in Trabzon im Nordosten der Türkei – der Heimatstadt des Istanbuler Bürgermeisters – gingen türkischen Medien zufolge Hunderte Menschen auf die Strasse.

Ein Strafgericht hatte Imamoglu am Mittwoch wegen Beleidigung von Staatsbediensteten zu mehr als zwei Jahren Haft und einem ebenso langen Politikverbot verurteilt. Imamoglus Anwalt kündigte umgehend Berufung an. Solange das Berufungsverfahren läuft, kann Imamoglu als Bürgermeister im Amt bleiben. Die Berufung könnte aber jederzeit verhandelt werden und eine mögliche Kandidatur Imamoglus für die Präsidentschaftswahl im kommenden Jahr verhindern.

Imamoglu gehört der sozialdemokratischen Oppositionspartei CHP an. Der 52-Jährige hatte im Jahr 2019 die Bürgermeisterwahl in Istanbul gewonnen und gilt als ein womöglich ernsthafter Konkurrent für Erdogan bei der bevorstehenden Wahl.

CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu, der als wahrscheinlicher gemeinsamer Kandidat der Opposition gilt, nannte das Urteil «einen Schlag gegen die Nation durch die Justiz» und versprach, «keinen Millimeter nachzugeben».

Das umstrittene Urteil könnte der schwierigen Zusammenarbeit der stark zersplitterten Opposition in der Türkei neuen Schwung verliehen. Bisher konnte sich das Bündnis nicht auf einen einzigen Kandidaten einigen, der Erdogans zwei Jahrzehnte währende Herrschaft bei der bevorstehenden Wahl herausfordern soll.

Erste Umfragen zeigen, dass die Entscheidung vom Mittwoch auf Erdogan zurückfallen könnte. Demnach halten selbst viele Wähler seiner islamisch-konservativen AKP-Partei das Urteil gegen den Bürgermeister für «politisch» motiviert. Dem Forschungsinstitut Metropoll zufolge glauben 28,3 Prozent der AKP-Wähler, dass der Fall «mit Politik zu tun habe», 17,6 Prozent sind der Meinung, es handele sich um «Verleumdung».

Das US-Aussenministerium erklärte, es sei «zutiefst beunruhigt und enttäuscht» angesichts der versuchten Ausschaltung eines der grössten Rivalen Erdogans von der politischen Bühne. Deutschland bezeichnete das Urteil als «schweren Schlag für die Demokratie». Frankreich forderte die Türkei auf, «ihr Abgleiten von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und der Achtung der Grundrechte» rückgängig zu machen.

Marc Pierini, Türkei-Experte am Carnegie Europe Institut in Brüssel, schrieb im Onlinedienst Twitter, dass «die Glaubwürdigkeit der Wahlen schwer beschädigt wird, wenn das Urteil nicht in einem Berufungsverfahren aufgehoben wird».

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