Intensivmediziner warnen: Bereits hätten die Zahlen der Covid-Patienten wieder zugenommen. SVP-Politiker Thomas Matter spricht von «systematischer Panikmache».
Coronavirus
Im Falle einer Durchseuchung dürften die Intensivstationen an ihre Grenzen stossen. - Universität Basel
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Das Wichtigste in Kürze

  • Der Bundesrat begründet die Öffnungsschritte mit der «relativ stabilen» Lage in Spitälern.
  • Intensivmediziner warnen bereits vor einem Anstieg der Covid-Patienten in den IPS.
  • SVP-Nationalrat Thomas Matter wittert Panikmache, weil die Bettenkapazität abgebaut wurde.

Die Verhältnisse auf den Intensivstationen seien relativ stabil, begründete Bundesrat Alain Berset die vorsichtigen Öffnungsschritte am Mittwoch. Schon tags darauf hielt die Schweizerische Gesellschaft für Intensivmedizin (SGI) fest: Stabil ist relativ. «Seit einigen Tagen steigt die Zahl kritisch kranker Covid-19-Patientien auf den Intensivstationen der Schweiz an.» SVP-Wirtschaftspolitiker Thomas Matter sieht die Zahlen auch, findet aber, es sei noch viel Luft nach oben.

«Im Gesundheitsbereich heisst das: Krieg»

Matter bezieht sich auf die offiziellen Zahlen von Bund und ETH, die täglich nachgeführt und mit Prognosen versehen werden. Demnach habe die Schweiz vor der Pandemie über 1'000 Intensivbetten verfügt. «Dann haben wir aufgestockt auf bis zu 1’600. Als diese dann leer blieben, hat man sie wieder abgebaut auf aktuell 920.»

ICU Intensivstationen Intensivpflege
Stein des Anstosses: Die Kapazitäten an Intensivpflegebetten und deren Auslastung in der Schweiz während der Pandemie. - covid19.admin.ch

Dafür fehlt Matter schlicht das Verständnis, angesichts der wirtschaftlichen Folgen der Massnahmen gegen das Coronavirus. «Jetzt haben wir ein Jahr Pandemie, im Gesundheitsbereich heisst das: Krieg. Wir haben schweizweiten Lockdown und das Gesundheitswesen baut Intensivbetten ab. Im Krieg hiesse das: Man verschrottet die eigenen Panzer.»

Thomas Matter
Thomas Matter ist SVP-Nationalrat und Mitglied des Parteileitungsausschusses der SVP. - Keystone

Matters Verdacht, angesichts der Warnungen vor Überlastung des Gesundheitswesens: «Man will hier systematisch die Panikstimmung aufrecht erhalten. Wir sollten nicht 10 Prozent weniger, sondern 10 Prozent mehr Kapazität haben, inklusive neu ausgebildetem Personal.»

Nicht Betten, sondern Personal fehlt

Yvonne Ribi, Geschäftsführerin des Berufsverband der diplomierten Pflegefachpersonen (SBK) sieht dies zwar komplett anders. Aber in einigen Punkten decken sich die Meinungen, wie bei der Personalfrage. «Die Betten sind nicht das Problem, sondern das fehlende Personal», streicht Ribi heraus.

Selbst wenn die Situation «relativ stabil» bleiben sollte: «Man kann von den Pflegenden nicht noch mehr fordern. Sie sind seit einem Jahr maximal ausgelastet und stehen an der Front. Und das in einem Umfeld, das schon zuvor angespannt war mit dem Personalmangel.»

Yvonne Ribi SBK
Yvonne Ribi, Geschäftsführerin des Schweizer Berufsverbands der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner SBK. - zvg

Ribi greift zwar nicht zur Kriegsrhetorik, aber ein K(r)ampf war es trotzdem. «Die Situation im Herbst 2020 brachte viele Spitäler an den Rand ihrer Kapazitäten.» Solches dürfe sich auf keinen Fall wiederholen, sonst stehe die medizinische und pflegerische Versorgung der Bevölkerung auf dem Spiel. Denn möglich war das Betreiben von derart vielen Intensivpflege-Betten nur, weil Personal verschoben wurde.

Auf- und abgebaute Betten-Kapazität

Nicht dringliche, sogenannte Wahleingriffe waren ausgesetzt, mangels Mobilität und Freizeitaktivitäten blieben Unfälle aus. So erschliesse sich die sich ändernde Bettenkapazität, erläutert Ribi: «Auch Anästhesiepflegepersonal intubiert Patienten und arbeitet mit Beatmungsmaschinen. Dieses Personal kann man nach einer Schulung dank seiner Flexibilität auf Intensivstationen einsetzen.» Steigt die Zahl der IPS-Patienten stark an, könne man so vorübergehend mehr Betten aufmachen.

Auslastung Intensivpflege-Betten ICU
Die Auslastung der Intensivpflege-Betten (ICU) in den Kantonen in der Prognose für den 18. April 2021, ohne Berücksichtigung von nicht-zertifizierten Betten. - icumonitoring.ch

Sorgen bereitet den Intensivmedizinern, dass die Trends jetzt alle gegen die Intensivbetten-Kapazität laufen. Einerseits steigt der Anteil der Covid-Patienten in den IPS bereits an. Gleichzeitig mahnt die SGI zur Vorsicht, weil mit der Öffnung auch Unfälle wahrscheinlicher werden. Die Prognosen der ETH zeigen, dass in den Grossregionen die Bettenauslastung stark zunehmen könnte oder zumindest nicht kleiner wird.

Ist noch Platz für dreimal mehr Covid-Patienten?

SVP-Nationalrat Thomas Matter betont dagegen, dass die Wirtschaft leide und man nach einem Jahr Pandemie viel versäumt habe. «Wir machen die ganze Übung ja aus zwei Gründen: Möglichst wenig Todesfälle und möglichst die Intensivstationen nicht überlasten. Wenn ich dann sehe, dass bei den Intensivstationen sogar abgebaut wird, dann wird mir langsam schlecht.» Er verweist auf die aktuellsten Zahlen: «Wenn wir – wie in der ersten Welle – 1500 Betten hätten, dann könnten sich die Zahlen ja noch verdreifachen.»

Intensivpflegebetten ICU Grossregionen
Die Auslastung mit Covid-Patienten der Intensivpflege-Betten in den Grossregionen «Zürich». «Ost», «Mittelland» und «Ticino» (v.l.n.r. & oben nach unten) in der Vergangenheit (blau) und mit Prognose (schwarz). Stand 15.4.2021. - icumonitoring.ch / Nau.ch

Beim Personalverband zweifelt man, ob diese Rechnung – ohne das Personal – aufgeht. Denn noch einmal «Krieg» liege nicht drin: «Alle vertagten Eingriffe wurden jetzt in den etwas ruhigeren anderthalb bis zwei Monaten nachgeholt», so Ribi. «Von daher gehe ich nicht davon aus, dass es gross gereicht hat, Ferien nachzuholen oder Überzeit abzubauen.»

Während Matter die andauernden Restriktionen für die Wirtschaft kritisiert, ist man im Gesundheitsbereich nicht sehr angetan vom Öffnungs-Optimismus des Bundesrats. Ribi appelliert deshalb an die Bevölkerung: «Die Öffnungsschritte nehmen uns alle enorm in die Verantwortung, die Hygienemassnahmen konsequent einzuhalten. Mit den Selbsttests arbeiten, Abstand halten, vor allem in Innenräumen aber auch Restaurantterrassen.» Sich bewusst bleiben, dass wir weiterhin mitten in einer Pandemie seien – auch wenn aktuell von 911 Betten nur 221 mit Covid-19-Patienten belegt sind.

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