Der Kanton Bern wählt: Wie nachhaltig hallt die «Grüne Welle» nach und wer beerbt Mitte-Regierungsrätin Beatrice Simon?
Politologe Claude Longchamp zu den Stadt- und Gemeinderatswahlen in Zürich vor einem Monat und den Erkenntnissen für die Wahlen im Kanton Bern Ende März 2022. - Nau.ch
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Das Wichtigste in Kürze

  • Im Kanton Bern sind am 27. März Wahlen für den Grossen Rat und den Regierungsrat.
  • Politologe Claude Longchamp schätzt die Ausgangslage ein.
  • Die «Grüne Welle» von 2019 sei noch nicht abgeebbt, wie die Wahlen in Zürich zeigten.

Am 27. März wählt der Kanton Bern sein Parlament und auch seine Regierung neu. Politologe Claude Longchamp analysiert die Ausgangslage im zweisprachigen Kanton der Stadt, Land, Industrie und Bergbauern vereint. Wie setzen sich «Grüne Welle» und «Frauenwahljahr» von 2019 auf nationaler Ebene fort?

Stadt Zürich: Grüne und Frauen mit weniger Schwung

Seither ist viel Wasser die Aare hinuntergeflossen und die Pandemie hat das öffentliche Geschehen geprägt. Politische Hinweise liefern aber andere regionale Wahlen wie zuletzt diejenige in der Stadt Zürich Mitte Februar. Dort haben die Frauen weiter zugelegt, «auf für eine Stadt tiefem Niveau, aber sie haben zugelegt», betont Longchamp. Dieser Trend halte also an.

Stadtrat Zürich Wahlen 2022
Der neu gewählte Zürcher Stadtrat mit (v.l.n.r.) Karin Rykart (Grüne), André Odermatt (SP), Daniel Leupi (Grüne), Stadtpräsidentin Corine Mauch (SP), Michael Baumer (FDP), Simone Brander (SP), Andreas Hauri (GLP) und Filippo Leutenegger (FDP). - Keystone

Auch die Grünliberalen konnten noch einmal zulegen, die Grünen hätten sich gut halten können. So kommt Longchamp zum Fazit: «Der grosse Schwung des Wahljahres 2019 ist heute etwas mässiger ausgefallen.» Aber gerade für die Grünen sei es auch schwierig, auf dem bereits hohen Niveau erneut zuzulegen.

Bürgerliche spüren Aufwind

Hingegen gebe es in den letzten zwei Jahren auch neue Phänomene bei kantonalen und städtischen Wahlen. «Es hat immer eine bürgerliche, zur Mitte tendierende Partei auch noch gewonnen.» Longchamp nennt die FDP, die im Kanton Neuenburg spektakulär gewonnen habe, die EVP und nicht zuletzt auch die Mitte-Partei.

Im zweiten Teil der Wahlanalyse für den Kanton Bern spricht Politologe Claude Longchamp über einen möglichen Mehrheitswechsel im Regierungsrat. - Nau.ch

Zusammengefasst heisse das: «Der Trend ist da, aber er ist etwas abgeschwächt.» Mit dem Zusatz, dass lokal bürgerliche Parteien, die sich neu aufgestellt haben, sich gegenüber der übermächtigen SVP durchaus profilieren können.

Weil die Pandemie-Bewältigung stark durch die Exekutive geprägt gewesen sei, hätten die Parteien sich damit kaum profilieren können. Darum halte der Trend von 2019 noch an.

Kanton Bern: Wie schlägt sich «Die Mitte»?

Verglichen mit der Stadt Zürich dominierten im Kanton Bern zunächst einmal die Unterschiede, betont Longchamp. «Wir haben die grösste und modernste Stadt gegen den ländlich mitgeprägten, regional sehr diversifizierten Kanton. Dazu kommt, dass die SVP in der Stadt Zürich extrem Mühe bekundet, sich überhaupt zu halten. Im Kanton Bern dagegen ist sie seit 1918 die staatstragende, die führende Partei.»

Grossrat Bern Parteien Geschlecht
Aktuelle Anzahl Sitze nach Parteien und Geschlecht im Berner Grossen Rat. - gr.be.ch

Trotzdem geht Longchamp davon aus, dass Trends wie der Boom bei den Frauen sich auch im Kanton Bern bestätigen werden. Auch die «Grüne Welle» sei wohl nicht einfach verebbt, wie Erfolge der Grünen und Grünliberalen bei lokalen Wahlen zeigten. Die grosse Frage sei, ob «Die Mitte» - im Kanton Bern zuvor als BDP bekannt – es schaffe, sich neu zu etablieren.

Kampf um Simon-Nachfolge

«Ich denke, das ist politisch gesehen die absolut wichtigste Frage.» Ausgerechnet die einzige Mitte-Vertreterin im Berner Regierungsrat tritt nicht mehr an, Newcomerin Astrid Bärtschi soll ihren Sitz verteidigen. Herausforderer Erich Fehr, SP-Mitglied und Stadtpräsident von Biel, gesteht Longchamp aber durchaus Chancen zu.

Simon Bärtschi Fehr
Mitte-Regierungsrätin Beatrice Simon (links) tritt bei den Wahlen nicht mehr an. Für ihre Nachfolge kandidieren Astrid Bärtschi («Die Mitte», mitte) und Erich Fehr (SP, rechts). - Keystone

«Es wäre ja nicht das erste Mal in den letzten 40 Jahren, dass wir eine linke Mehrheit in der Regierung hätten», streicht Longchamp heraus. Allerdings sei meist der dem Berner Jura garantierte Sitz dabei ausschlaggebend gewesen.

Dieser wird aktuell aber vom SVPler Pierre Alain Schnegg gehalten. Da ihm diesen niemand streitig mache, sei Schnegg automatisch gewählt. Obwohl Fehr in Umfragen an Bärtschi herankommt, sei der Angelpunkt zugunsten der SP darum nicht im gleichen Mass gegeben.

coronavirus
Der Berner Gesundheitsdirektor Pierre Alain Schnegg leitete auf Bitte des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) die Vorbereitungsarbeiten. - Keystone

Für Astrid Bärtschi spreche, dass sie in der bürgerlichen Allianz gut aufgehoben sei und diese jeweils ausserhalb der städtischen Zentren punkte. Eine Schwäche sei, dass sie im Gegensatz zu Erich Fehr keine Exekutiverfahrung vorweisen könne. Fehr sei aber ganz klar ein typischer Vertreter der urbanen Zentren und der dritte SPler, der in den Regierungsrat möchte.

«Das ist bei der Parteistärke der SP wohl einer zu viel, um einfach so akzeptiert zu werden», vermutet Longchamp. «Von dem her würde ich sagen: Das Rennen ist noch nicht entschieden, mit leichten Vorteilen für Astrid Bärtschi.»

Nationale Wahlen: Lösungsorientiere Parteien können Trends brechen

Im nächsten Jahr stehen auch bereits wieder nationale Wahlen an. Zwar werde der Ukraine-Krieg 2023 in irgendeiner Form das dominante Thema werden. Aktuell relevant sei dabei die Debatte um den Kauf der F-35-Kampfjets.

Je nachdem, wie sich der Ukraine-Krieg weiterentwickle, verschiebe sich das politische Spektrum entsprechend. «Von dem her müssen wir einfach mit den Unvorhersehbarkeiten leben.»

Im dritten Teil der Wahlanalyse für den Kanton Bern spricht Politologe Claude Longchamp über erste Trends bei den nationalen Wahlen nächstes Jahr. - Nau.ch

Im Moment befände sich die Schweiz in der zweiten Phase zwischen zwei Wahlen, erläutert Politologe Claude Longchamp. «Nach einer Wahl gibt es 12 bis 18 Monate lang Echo-Effekte, das heisst nationale Trends wiederholen sich bei kantonalen Wahlen.»

In Phase zwei treten ungelöste Probleme an die Oberfläche. Wer Lösungen anbieten kann, kann sich profilieren. Deshalb könnten Themen wie die Rentenreform, Gesundheitskosten oder Energiepolitik zum mitentscheidenden Faktor werden. «Es werden also eine ganze Reihe an Themen in den Vordergrund rücken, die nicht mehr Corona-bedingt sind.»

Von EVP bis FDP liegen Gewinne drin

Sechs Monate vor den Wahlen werden sich, in Phase drei, aller Augen auf die Wahlen im Kanton Zürich richten. Auch andere Wahlen wie im Tessin und in Luzern hätten Gewicht. «Wenn sich dort ein neuer Trend herauskristallisiert, wird das auch national der Wahl-Trend.» Für eine diesbezügliche Prognose sei es heute aber zu früh, so Longchamp.

Lilian Studer Thierry Burkart
Mit Lilian Studer und Thierry Burkart haben sowohl die EVP wie die FDP im 2021 neue Parteipräsidenten gewählt. - Keystone

Parteien, die sich bei den genannten Themen profilieren können, könnten aber durchaus einen Gegenpunkt setzen zur «Klimawahl». Das müsse betontermassen nicht eine Pol-Partei sein: «Die Wählerschaft tendiert heute eher zu einer differenzierten Betrachtungsweise.»

Das gelte auch für die Parteienlandschaft, weshalb neue oder erneuerte Parteien eine Chance erhielten. Davon profitieren könnten alle Parteien von der EVP bis zur FDP, schätzt Longchamp.

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